Aquamarina

"Liebes, wir müssen miteinander reden." Er sprach durch die geschlossene Badezimmertür mit jener nachlässigen Freundschaftlichkeit, die unter Paaren gewöhnlich ist, die schon eine Weile, doch noch nicht allzulange, verheiratet sind. Eine Antwort bekam er nicht, wenn man nicht das als Antwort ansehen wollte, daß drinnen im Bad ein Wasserhahn aufgedreht wurde. Er seufzte. "Schatz," sagte er, "ich weiß, ich habe versprochen, dich niemals beim Baden zu stören. Aber da wußte ich nicht, daß du es so maßlos übertreiben würdest." Das Rauschen des Wasserhahns brach ab, und eine Weile hoffte er, sie würde ihm nun endlich zuhören. Doch das fröhliche Plätschern und Gluckern aus dem Badezimmer belehrte ihn rasch eines anderen. "Hast du mal einen Blick auf die Wasserrechnung vom letzten Monat geworfen," redete er gegen die Wand und verstummte, als sie drinnen zu singen begann. Ihre schöne, klare Stimme, damit hatte sie ihn noch jedesmal herumgekriegt. Er starrte auf die Rechnung und schob den Zettel resignierend in die Hosentasche. Es war sinnlos, mit ihr darüber reden zu wollen. Seine Mutter hatte ihn gewarnt vor diesen seltsamen Frauen vom Strand, von denen niemand wußte, wer sie waren und woher sie kamen. "Wenn du nicht gleich rauskommst, komme ich rein," rief er wütend. Seltsam, für eine Weile hatte er einen salzigen Geruch in der Nase verspürt. Meeresgeruch, die Erinnerung an Wind und Brandung. Ein sonniger Tag am Strand, sie sehr weit draußen, er bis zu den Knien im Wasser, sein erster Tag in dieser abgelegenen Bucht. Wie sie lachen konnte. "Ich komme jetzt rein und ziehe den Stöpsel raus," sagte er entschlossen.

Sie war weit hinausgeschwommen an diesem Tag. Langsame, regelmäßige Schwimmzüge brachten sie rasch voran. Die See war nur leicht bewegt, kleine, flache Wellen liefen neben ihr her, das Meer trug sie. Der gleichmäßige Dreierrhythmus war ihr in Fleisch und Blut übergegangen, Arme, Beine, Gleiten, selbst im salzigsten Meerwasser schloß sie nie die Augen. Nur vom Sonnenlicht mußte sie manchmal blinzeln, besonders an wolkenlosen Tagen wie diesem, wenn sich die Sonnenstrahlen tausendfach in den Wellen brachen und in alle Richtungen gleichzeitig reflektiert wurden. Einen Sonnenbrand mochte das heute durchaus abgeben.

Sie drehte sich auf den Rücken und räkelte sich wohlig im warmen Sonnenlicht, während das Wasser sie angenehm kühl umflutete. Der Strand war bereits in beträchtliche Entfernung gerückt, ein leichter, ablandiger Wind hatte nun eingesetzt, warmer Wind vom Land. Vor einigen Minuten hatte die Ebbe begonnen, doch war die Strömung noch kaum spürbar. Sie ließ sich eine Weile treiben, doch nicht lange, zu sehr drängte es sie nach Bewegung, Arme, Beine, Gleitphase.

Sie freute sich an der Gleichmäßigkeit, mit der ihre Arme arbeiteten, Armzüge einer wie der andere, wie stolz machte es sie, sie liebte es, die Freiheit zu spüren in jedem einzelnen der kräftigen Ruderschläge. Vertrauen, dachte sie, niemandem kann man so sehr vertrauen wie seinen Armen und den Wellen. Kräftige Beinstöße trieben sie vorwärts, unermüdlich. Zügig, doch ohne Eile bewegte sie sich durch die Wellen, fließende Bewegungen, unendlich oft wiederholbar.

Das Wasser war inzwischen dunkler geworden, eine kühlende Strömung stieg von unten her zu ihr auf, strich sanft über ihren sonnendurchglühten Rücken, etwa zwanzig Meter Tiefe, schätzte sie. Arme und Beine arbeiteten auf ihre zuverlässige Art weiter, pausenlos, regelmäßig, ein Uhrwerk aus Muskeln und Sehnen. Da vorne verlief die Schiffahrtsstraße, und sie würde alle ihre Kraft und Geschicklichkeit aufbieten müssen, um dort zwischen den Fähren und Tankern unbeschadet hindurchzukommen. Die Durchquerung eines solchen Fahrwassers war selbst für ein Schiff nicht ganz ungefährlich, die großen Dampfer waren schnell und hatten einen Bremsweg von mehreren Seemeilen, selbst wenn man sie also von dort oben sah, sofort sah, wenn der Steuermann sofort reagierte, war es schon zu spät.

Die Schwimmerin näherte sich langsam und sah sich sorgfältig um. Sie hatte schon von Leuten gehört, die ihr Bein in einer Schiffsschraube verloren hatten, oder auch das Leben. Zwei Fähren im Fahrwasser, eine von West, eine von Ost. Sie würden sich wahrscheinlich nicht weit von ihr begegnen. Und weiter im Osten ein größerer Tanker, die Entfernung schien ausreichend. Ein paar kleinere Boote, Sportsegler, die taten ihr nichts. Ein kleiner weißer Ausflugsdampfer tuckerte heran, bunte Wimpel, bunte Touristen auf Deck. Nach dem versuch ich’s, beschloß sie. Sie beobachtete die Bugwelle, zählte in Gedanken bis zehn, dann schoß sie los.

Sie warf ihren ganzen Körper in die Arme hinein, zerteilte die Wellen mit aller Kraft, die ihr zur Verfügung stand. Der Sog des kleinen Dampfers war stärker, als sie gedacht hatte. Einen schrecklichen Augenblick lang sah es so aus, als würde er sie mit sich fortreißen, sie am Rumpf des Stahlschiffes zerschellen lassen, doch dann griffen ihre Bewegungen, sie wurde schneller, ein Knoten, vielleicht anderthalb, schätzte sie und war sich bewußt, daß sie dies Tempo nicht lange würde durchhalten können. Zwei kleineren Seglern wich sie mühelos aus, mit der westlichen Fähre wurde es etwas brenzliger, doch dann erfaßte sie der Schwall des großen Schiffes und drückte sie weg bis zur Fahrwassermitte.

Sie klammerte sich an der weißroten Mittelboje fest und atmete tief durch. Ihr Puls raste wie verrückt und wollte sich so schnell gar nicht wieder beruhigen. Sie tauchte das glühende Gesicht ins Wasser, die Kühle tat gut, doch ihr Atem flog noch immer. Zur Hälfte geschafft, dachte sie. Als die östliche Fähre an ihr vorbeizog, mußte sie sich mit beiden Händen festhalten. Das Schiff sog an ihr, und ihr war, als müsse es die Boje aus ihrer Verankerung lösen und mit sich fortreißen. Doch die Fahrwassermarkierung hielt stand, legte nur den mächtigen Metallkörper träge in die Strömung hinein, eine letzte hohe Welle schüttelte sie beide durch, dann wieder Stille. Fast glatte See.

Sie zog sich an der Boje empor und starrte angestrengt nach Osten. Wo war nur der Öltanker geblieben, sie konnte ihn nirgends entdecken. Er mußte wohl schon vorbeigefahren sein, überlegte sie. Jetzt, wo die Wellen sich beruhigt hatten, spürte sie wieder die freundliche Strömung von vorhin, der Strom schien das Fahrwasser fast rechtwinklig zu kreuzen. Sie lächelte. Einen besseren Verbündeten konnte sie sich gar nicht wünschen in diesem Seegebiet. Ihr Atem ging nun wieder ruhig und gleichmäßig. Fast andächtig ließ sie sich zurück ins Wasser gleiten, dann schwamm sie los. Arme, Beine, Gleiten.

Die Arme griffen weit aus, jeder einzelne Zug voll Hingabe. Die Wellen schwappten über ihre Schultern, es tat einfach gut, am Leben zu sein. Es war so - ein lautes Tuuuuut riß sie aus ihren Gedanken - sie blickte hoch, sah vor sich, über sich den Bug des Tankers, dunkler Stahl über ihr - aus, dachte sie, spürte nur noch, wie Beine und Arme reagierten, sie sprang, streckte sich in der Luft, tauchte ein in eine gewaltige Flutwelle. Ob sie geschrien hatte, wußte sie nicht mehr, als der Schwall des Tankers und die freundliche Strömung sie aus dem Fahrwasser schwemmten. Aus der Tiefe glaubte sie, die bleichen Gesichter der Tankerbesatzung zu erkennen. Sie selbst ließ sich eine Weile mit den Wellen treiben, dann nahmen Arme und Beine ihre Arbeit wieder auf.

Das gefährlichste Stück des Weges war überstanden, sie streckte sich wohlig aus, die Erinnerung an den Tanker war ihr nun nicht einmal mehr unangenehm. Hier war das Meer wärmer als im Fahrwasser, es mußte demnach flacher sein, also war sie nun vor den größeren Schiffen sicher. Einmal sah sie in der Ferne einen Dreimaster, da wurde ihr ganz warm ums Herz, denn die Segler, die mochte sie. Sonst blieb alles ruhig. Sie schwamm.

Es mochten wohl nun einige Stunden vergangen sein, seit sie aufgebrochen war, und jetzt, endlich, versank das letzte Stück Festland hinter ihr im Meer. Ringsum nur Horizont und Wellen, Wasserhimmel, sie war allein. Glücklich, dachte sie. Und: Komisch, was sich manche Leute unter dem Glück vorstellen. Tief einatmen.

Sie stand senkrecht im Wasser, die Beine traten ruhig und gleichmäßig, dann legte sie den Kopf in den Nacken. Sie sang. Sie wußte nicht genau, was es war, das sie da sang. Vielleicht waren es uralte Liebeslieder, die das Meer vor Zeiten für den Mond gedichtet hatte, vielleicht auch Töne ohne irgendeine Bedeutung, die ihr einfach so von irgendwo und irgendwie in den Kopf geraten waren. Es war ihr auch eigentlich egal, solange sie nur singen konnte, weit, weit fort vom Lande, mitten im Meer, dort wohin kein Mensch jemals kam, kein Schiff je fuhr, wohin ihre Lieder gehörten.

Plötzlich brach sie ab. Irgendetwas stimmte nicht, war anders als sonst. Die Strömung. Sie kam plötzlich aus der falschen Richtung. Ehe sie überhaupt reagieren konnte, war sie schon weit fortgetrieben, reißend und tausendmal schneller als sonst war der Strom, er faßte sie, riß sie mit sich fort, sie schrie, schrie wie sie noch nie in ihrem Leben geschrien hatte, der Strom riß sie davon, riß sie mit sich im Kreis, erst in weiten, dann immer enger werdenden Windungen, immer schneller drehten sie sich, das Brausen und Tosen, sie schrie, dann zog sie der Strudel hinab in die Tiefe.

"So," sagte er triumphierend und ließ den Badewannenstöpsel vor ihrer Nase hin und her tanzen. "Vielleicht hörst du mir jetzt endlich zu." Erst nach einer Weile begriff er, daß sie ihm nie wieder zuhören würde.

Die Freunde sprachen ihm allesamt ihr Beileid aus, was man eben so sagt in diesen Fällen. Die Mutter hatte ihn gleich gewarnt vor solchen Frauen, sie hatte es ja immer gesagt. Aber daß solche Frauen in der Badewanne ertrinken können, das hatte wohl selbst die Mutter nicht gewußt.





© Petra Hartmann