Darthula

Anmerkung: Dieser Text entstand im Jahr 1996 und ist mein erster Versuch, aus dem Stoff eine Erzählung zu formen. 2010 erschien mein Roman "Darthula, Tochter der Nebel" im Arcanum-Verlag.
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Irland. Natürlich, es hatte ja unbedingt Irland sein müssen. Ich für mein Teil war zwar für Griechenland gewesen, aber die anderen drei hatten mich nun einmal überstimmt. Und jetzt schaukelte die Himingläfa irgendwo dort draußen in dieser gottverlassenen Bucht vor Anker, und ich stand mit den Einkäufen am Strand und konnte im Nebel nicht einmal mein Schlauchboot wiederfinden. Typisch. Nicht, daß ich es bei dem Nebel gewagt hätte, zum Schiff zurückzurudern, ich hätte es in jedem Falle verfehlt und wäre aufs offene Meer hinausgetrieben, mutterseelenallein, ganz sicher. Ich hätte das Boot nur gern wiedergefunden.

Ich pfiff. Sofort tauchte vor mir im Nebel ein schwarzes, zottiges Ungeheuer auf und stieß freundlich mit der Schnauze gegen meinen Oberschenkel. John Wolf, unser Bordhund, hatte mich ins Dorf begleitet, und ich war froh, den Schäferhundmischling bei mir zu haben. Das Tier hatte schon immer einen guten Einfluß auf mich gehabt und wirkte auch nun äußerst beruhigend auf mich. Gutmütig ließ er sich das dichte, bockige Nackenfell kraulen, während ich in den Nebel starrte und versuchte, das Schiff auszumachen. Oder zumindest das Schlauchboot. So ein Mist. Wütend kickte ich Steine über den Kiesstrand und ärgerte mich, daß ich schon so weit an der Küste entlanggeirrt war. Denn nun würde ich den schmalen Pfad, der durch die Felsen zum Dorf zurückführte, ganz sicher nicht mehr wiederfinden. Keine Chance also, in irgendeinem dieser folklore- und bierdunstgeschwängerten Pubs zu sitzen und abwarten zu können, bis dieser Nebel sich verzog.

Da saßen sie nun also in der warmen Himingläfa, tranken einen steifen Grog oder auch Tee mit sehr viel Rum, Ludolf, Theodor und Clara, während ich leider ... typisch. Ich setzte mich auf einen der unangenehm klammen Felsen - selbst durch die Ölhose hindurch spürte ich, wie feucht er war - und nahm den schweren Rucksack ab. Wenigstens würde ich nicht verhungern, Brot, Butter und Aufschnitt hatte ich ja dabei, auch ein Päckchen Milch und für meinen persönlichen Gebrauch eine schöne, große, eisgekühlte Flasche Cola. Für Clara hatte ich Postkarten und Briefmarken mitgebracht, und Theodor hatte nach einer Tafel Vollmilchschokolade gejammert. Die beiden waren leicht zufriedenzustellen. "Und was soll ich dir mitbringen, Ludolf, hast du einen Wunsch?" Ludolf hatte die Achseln gezuckt. "Bring mir einfach eine Geschichte mit für heute Abend," hatte er dann gesagt. Er hatte tatsächlich die Unverschämtheit besessen, das Wort "einfach" zu verwenden. Obwohl er doch genau wußte, daß ich mit Irland und seinen Geschichten in keinster Weise klarkam. Soviel also dazu.

Ehrlich, ich hatte es versucht. Drüben, in meiner Koje auf der Himingläfa, lag noch ein Buch mit irischen Märchen, das ich schon angefangen hatte. Aber ich kam damit echt nicht zurande. Weißt du, John Wolf, bei den Grimms, da ist alles so schön einfach. Da hat ein Vater drei Söhne, die ziehen in die Welt hinaus, zwei sind klug aber eingebildet, die scheitern dann, vollkommen zurecht, und dann kommt der dritte, der ist von eher schlichtem Verstand aber herzensgut, der löst dann die Aufgabe, dann kriegt er die Prinzessin, und wenn er am Ende verheiratet ist, dann ist das Märchen fertig. So schön und übersichtlich muß ein richtiges Märchen sein. Aber die Irländer sehen das halt anders. Das irländische Märchen wird geboren im irischen Kneipendunst, da steht ein Märchenerzähler auf und fabuliert munter drauflos über den siebten von zwölf Söhnen, der erlebt ein haarsträubend unlogisches Abenteuer nach dem anderen, und das Märchen ist zu Ende, wenn das Bier alle ist.

Ich nahm einen tüchtigen Schluck aus meiner Colaflasche und kraulte John Wolf hinter dem rechten Ohr. In Griechenland hätte ich ihm schöne Geschichten mitbringen können. Die alten Gesänge von den Inseln, Geschichten um Helden und Schiffe. Weißt du, John Wolf, wer die geschrieben hat? Das ist der alte blinde Mann, er wohnt am felsigen Chios, seine Lieder bleiben für immer die schönsten.

Nebel ist nicht gut für die Seele. Da saß ich nun auf dem Felsen, es war kalt und feucht, von allen Seiten umgab mich dies weißliche Grau, in dem seltsame Satten waberten, und es ist kein Wunder, wenn einen Menschen dort die Schwermut beschleicht. Die weiße Watte hüllt alle Geräusche ein, und nichts klingt mehr so, wie es sich anhören sollte. Die Wellen vom Ufer, kaum zwei Schritte entfernt, brandeten fremdartig gedämpft an mein Ohr. Und als ich nun mit den Händen einen Schalltrichter formte und ins Nichts hinausrief: "Theodor! Clara! Ludolf!! Himingläfa ahoj!", da warf mir der Nebel ein so unheimliches Echo meiner eigenen Stimme zurück, daß ich es kein zweites Mal versuchte. Irgendwo raschelte Laub, doch kein Wind zerteilte die Nebel vor mir. Ich ließ den Kopf hängen.

"Tränen an Darthulas Grab?" Ich schrak zusammen. John Wolf knurrte leise, doch nicht bösartig, das beruhigte mich etwas. Undeutlich tauchte vor uns aus den Nebeln eine Gestalt auf, kam die wenigen Schritte zu uns herüber. Ich erhob mich und bot dem alten Mann meinen Gruß, der, in fließende, helle Gewänder gehüllt, selbst ein Teil des uns umgebenden Nebels zu sein schien. Eine leichte Wanderharfe, die der Fremde mit sich führte, ließ mich an die "Celtic Folk"-CD denken, mit der uns der leicht zu begeisternde Theodor schon seit Tagen bedröhnte. Doch machte der Alte nicht den Eindruck eines typischen Wirtshausmusikers, auch waren einige der Saiten zersprungen und hingen nun traurig herunter. "Es hat schon lange niemand mehr geweint an Darthulas Grab," murmelte er und tastete nach dem Felsen, auf dem ich gesessen hatte. "Ich habe nicht geweint," widersprach ich. "Doch hast du geweint," sagte er.

"Aber ich höre schon," begann er nach einer Weile des Schweigens, daß du nicht Darthulas wegen hier bist." "Und weshalb sind Sie hier?" fragte ich. "Bei diesem Nebel bleiben die Menschen für gewöhnlich zu Hause." Er lächelt traurig. "Für mich herrscht immer Nebel," sagte er, und erst jetzt, als ich ihm genau in die Augen sah, bemerkte ich, daß er blind war. Ich schwieg betreten und schaute zu, wie er John Wolf den Nacken kraulte. Er hatte geschickte Finger, die alle Stellen fanden, an denen der Schwarze das Kraulen liebte. Der Harfner mochte demnach kein unrechter Kerl sein, und ich beschloß, Vertrauen zu ihm zu haben, auch wenn er sich an Orten wie diesem herumtrieb.

"Ich komme oft her," erklärte mir der Alte. "Turas Bucht ist einsam gelegen, und viele Lieder singt man am besten, wenn man mit sich allein ist. Wenn der Nebel aufsteigt oder der Sturm über das Meer jagt, geh ich an den Strand und singe von den alten Zeiten. Und eine Harfe stimmt man besser unter freiem Himmel, so habe ich es stets gehalten." Er fuhr mit der Hand in die Tasche und zog einige Harfensaiten hervor. "Es wird einige Zeit dauern, bis ich sie alle aufgezogen habe," meinte er. "Wenn du magst, dann setze dich zu mir, und ich will dir die Geschichte Darthulas erzählen, wie sie sich vor Jahren in der Bucht von Tura zugetragen hat. Du findest doch nicht wieder zurück, bevor sich der Nebel verzogen hat." Damit mochte er Recht haben. Ich setzte mich daher, und der Alte fing an, die gerissenen Saiten aus dem Rahmen herauszulösen. Währenddessen begann er seine Erzählung:

"In den alten Zeiten herrschte der freundliche König Kolla über das Land Selama, das ein reiches und fruchtbares Land war mit sanften, grünen Hügeln und mächtigen rauschenden Eichenbäumen. Der Wind von Selama sang wie die alten Barden von Morven, und in den Nebeln Selamas lebten die Geister der vergangenen Heldengeschlechter fort und erzählten flüsternd von ihren Taten. Längst hatte Kolla, wie es Brauch war, sein Schwert neben die Schwerter seiner Vorfahren an die Wand des großen Saales gehängt, denn der König war alt geworden und mochte nicht mehr auf Abenteuer und Kriegsfahrten ausziehen, sondern die ihm verbleibende Zeit in Frieden, in der beschaulichen Stille Selamas zubringen.

Sein Sohn Truthil war bereits erfahren in Waffen und Regierungskunst und leitete die Geschicke des Landes mit großer Umsicht und Sorgfalt. Seine Tochter Darthula aber galt als das schönste Mädchen von ganz Erin, und es gab kaum einen Barden, der kein Lied auf die bezaubernde Tochter Kollas gemacht hat. Ihr dunkles, braunes Haar, das in reichen Locken auf ihre Schultern niederfiel, war in zahllosen Versen besungen worden. Wenn der Wind in Darthulas Haar spielte, lag ein Seufzen in der Luft. Griff aber ein Sturm hinein, so war es, als wühle er ein wildes Meer auf, in dem Wellen und Sturzbäche sich überwarfen. Die Barden und die Winde aber verkündeten in ganz Erin die Schönheit Darthulas, und niemand lebte, der Kollas Tochter nicht gleich einer Göttin verehrt hätte.

Auch zu dem wilden Kairbar gelangte die Sage von der schönen Königstochter aus Selama. Er sammelte sein gewaltiges Heer und zog von Temora bis hin zu Kollas Burg. Als aber Kolla das Mädchen nicht herausgeben wollte, ergriff Zorn den König Kairbar, er verheerte Selama, zog sengend und plündernd mit seinen Kriegsschaaren durch das Land und drohte, Kollas Festung dem Erdboden gleichzumachen.

Viele Tage tobte die Schlacht um die letzte Festung Selamas. Dann aber fiel Truthil. In einem furchtbaren Schwertkampf war der junge König und Heerführer von Kairbar erschlagen worden, und mit ihm sank auch die Blüte der Jugend Selamas hin, eintausend junge Krieger, die schönsten Heldensöhne Selamas, lagen am Abend in ihrem Blute, die letzten der alten Adelsgeschlechter Selamas. An diesem Abend stieg der alte Kolla hinab in Selamas widerhallenden Waffensaal, wo die Schwerter seiner Ahnen hingen. Was noch nie in der jahrhundertealten Geschichte Selamas geschehen war, Truthils Vater tat es in dieser Nacht: Kolla nahm sein Schwert wieder an sich.

Am Morgen legte er den alten Harnisch um, nahm Speer und Schild und Pfeil und Bogen und reckte sein Schwert hoch in den Himmel. Es war alt und schartig geworden im Laufe der Jahre, auch wollte es nicht mehr so recht glänzen in der Sonne, und auch der alte Harnisch wies manche Beulen und Schrammen auf. Und mit brüchiger Stimme sprach der alte Mann zu den Greisen Selamas:

‘Ihr Gefährten meiner Jugend, treue Freunde in Krieg und Frieden. Nie noch saht Ihr mich so in Waffen, selbst in den alten Tagen Konfadons nicht, ging ich so gerüstet. Ich glaubte, die Zeit sei vorbei, da ich mit Helm und Harnisch zur Schlacht auszog. Mein Schild ward alt und brüchig, längst hatte mein Schwert seine Stelle gefunden. Vom Abend meines Lebens dachte ich, daß er ruhig und voller Frieden sein solle, sanft wollte ich hinabsinken wie die Sonne am Ende eines langen Sommertages.

‘Doch der Sturm kehrte zurück. Wild schüttelte er mich wie eine alte Eiche, er bog meine Äste und warf sie hinab auf Selama. Der Sturmwind Kairbars schüttelte mich, und ich erbebte an meiner Stätte. Wo ist Truthil? Dort in den Nebeln sehe ich seine Gestalt traurig und einsam. Doch ich will nicht mehr trauern. Ich fühle die alte Kraft in meinen Arm zurückkehren. Kolla oder Kairbar, einer muß sterben an diesem Tag.’

Er schlug an seinen mächtigen blauen Schild, der tönte schauerlich tief und trug den Kriegsruf Kollas weit übers Land. Dann, leiser geworden, seufzte er: ‘Doch wo finde ich Schutz für Dich, meine Tochter? Sieh, die alten Tage sind dahin, da mein Arm noch stark genug war, Dich zu bewahren. Und die Blüte Selamas sank mit Truthil. Wer soll Dich schützen, Darthula?’ Darthula schüttelte unwillig den Kopf. ‘Hier, Vater, mein treuer Eschenbogen,’ sprach sie, ‘birgt alle Sicherheit für mich. Wann schoß ich je vorbei auf der Jagd, und gleicht nicht Kairbar einem wilden Tiere?’ Als sie sich ihren gehämmerten Kupferhelm auf die Locken drückte, lächelte der alte Kolla. ‘So spricht Truthils wahre Schwester,’ sagte er gerührt. ‘Doch halte Dich eng bei mir, damit ich Dich mit meinem Schild decken kann. Ihr anderen aber,’ rief er den Greisen Selamas zu, ‘folgt uns. Es gilt Selamas letzte Schlacht.’

Und so zogen sie hinaus zur letzten Schlacht, die alten Krieger von Selama. Der Wind wühlte ihr Haar auf wie ein graues und weißes Meer, und inmitten der hellen Fluten schwamm wie eine einzelne dunkle Welle das braungelockte Mädchen mit dem Eschenbogen. Wohl fochten sie tapfer, sie waren erfahren in zahllosen Kriegen und hatten in ihrer Jugend manchem Feinde getrotzt. Dann aber fuhr der Sturmwind Kairbars in ihre Fluten, sprengte das Heer weit auseinander, und einer nach dem anderen sanken die Greise Selamas nieder. Als letzter fiel Kolla, er stürzte zu Boden, und als Darthula ihren Schild über ihn hob, um ihn vor dem Hagel der Pfeile zu schützen, sprang ihr Harnisch auf, ihre weiße Brust trat hervor, und Kairbar erkannte das Mädchen von Selama. Er lenkte den erhobenen Speer zur Seite, riß sie mit sich auf dem Streitwagen davon und rief seinen Triumph in aller vier Winde hinaus. Denn nun war Selamas Schöne in seine Hand gegeben, und niemand lebte mehr, der ihm seine Beute hätte streitig machen können.

Niemand als Nathos der Sohn Usnoths und seine Brüder. Zum Kampf gegen Kairbar waren die Fürsten von Etha herbeigeeilt und hatten von der einstmals stolzen Feste Selamas nur noch die traurigen Mauerreste gefunden, nur noch die Toten, die auf dem verlassenen Schlachtfeld unbestattet ruhten. Als Nathos den wilden Kairbar auf Selamas Ruine erblickte, wie er der armen Darthula prahlend die Überreste ihrer alten Wohnstatt zeigte, gab es kein Halten mehr für den tapferen Sohn Usnoths. Wild sprang er ihn an, sein schwarzes Haar flog im Wind wie die Schwinge des Raben, da erfaßte die Furcht den König Kairbar, denn sein Heer war noch fern, und er floh und ließ Kollas Tochter zurück.

Darthula aber war ein neues Licht in der Seele aufgestiegen, als sie den Helden aus Etha erblickte, und Nathos erging es nicht anders, nun, da er vor der letzten Tochter Selamas stand. Und er versprach, sie als seine Braut ins waldreiche Etha heimzuholen. Schon hatten seine Brüder, Ardan und Althos, ihr kleines Schiffchen seeklar gemacht, und Nathos führte seine junge Braut glücklich an Bord. Althos richtete die Segel gen Etha, ein leichter Wind erhob sich und griff hinein, und bald war das traurige Selama hinter ihnen versunken.

Hast Du gelacht, Darthula? Fast möchte ich es annehmen. Ich sehe sie vor mir, im Bug des Schiffchens, Gischt sprüht zu ihr herauf, der Wind greift in ihr dunkelbraunes Haar. Und zurück, weit zurück bleiben die Erinnerungen an die blutigen Schlachten Selamas, an die Felder voller Leichen, an die toten Freunde ihrer Jugend, an Truthil und Kolla. Vielleicht, als die Wogen das Schiff Darthulas auf und nieder warfen, als der wilde Seesturm an ihren dunklen Locken riß, als sie das Salz der irischen See auf ihren Lippen spürte, vielleicht, daß Darthula in diesen Stunden zum letzten Mal ein wenig vom Glück empfand..."

Der Alte strich prüfend über die Saiten seiner Harfe. Vier neue Saiten hatte er einspannen müssen, und bereits jetzt, als er das Instrument stimmte, hörte man deutlich, wie traurig das Lied werden würde, das er darauf spielen wollte. Und es war ganz sicher nicht der Nebel allein, der den blinden Mann auf diese wehmütigen Töne herabgestimmt hatte. Die uralten Finger drehten den letzten Wirbel der Harfe, bis die Saite bis fast zum Zerreißen gespannt war, sie gab einen hellen, wimmernden Klageton von sich wie eine im Nebel verirrte Seele.

"Sie wurde demnach nicht glücklich?" fragte ich, da der Alte nicht weitersprach. "Sie war der Schlacht und dem Tode nicht entkommen?" Der Alte schüttelte traurig den Kopf. Ich sah ihm nicht ins Auge, es mochten sich Tränen dort sammeln. Für eine Weile glaubte ich, neblige Gestalten zu uns herantreten zu sehen, Nathos, durch dessen trübschimmernde Nebelgestalt die Sterne bläßlich hindurchblinkten, sein Speer wie eine Säule aus Nebel, einen flammenden Meteor an der Hüfte, dort Ardan und Althos, flüchtigen, nebligen Irrlichtern gleich, und die dunkelgelockte Darthula mit großen, traurigen Augen. Verloren, versunken, verschwunden. Nebelgeister.

Und wieder strich der alte Sänger über die letzte, hellste Saite seiner Harfe. "Die Alten glaubten," murmelte er, "daß keine Heldenseele in Frieden dahinziehen könne, wenn am Grab des Verstorbenen kein Barde seine Stimme erhob. Auch Darthula wußte das." Er seufzte und blickte in die Nebel hinein, als könne er mit seinen blinden Augen dort mehr sehen als ich. Dann stand er auf und schaute weit aufs Meer hinaus. "Nein," fuhr er fort. "Darthula und Nathos wurden nicht glücklich. Ihr Schiff hat das Land Etha nie erreicht, und der alte Usnoth sah seine Söhne niemals wieder.

Denn in der Nacht, in der Nacht drehte sich der Wind. Und es war nicht das waldige Etha, dem das Schiff Darthulas zutrieb, dem die Wellen das Schiff Darthulas zutrieben. Dunkle Wolken verhüllten den Mond und die Sterne, schwarze Nacht umgab Kollas Tochter und die Söhne Usnoths, und wenn auch der Sturmwind wild und laut in ihren Segeln toste, seine Richtung veränderte er so heimlich und still, daß das kleine Schiff den Kurs verlor. Nein, es war nicht das waldige Etha, das die Flüchtigen willkommen hieß. Weit nach Mitternacht lief ihr Kiel auf Grund, Turas Bucht umschloß das kleine Schiff, und hier, hier am Strand von Tura betraten Darthula und die Söhne Usnoths wieder festen Boden.

‘Ist dies Etha?’ fragte Darthula. ‘Die Heimat meines Nathos?’ Ihre Stimme zitterte ein wenig, die Lippen bleich, der Blick trübe, so folgte Selamas Schöne dem Sohn Usnoths an Land. ‘Nicht fremd erscheint mir das Land des Geliebten, selbst der Wind singt in Etha wie die Winde des heimatlichen Selama.’ Der Sturm griff in ihre dunklen Locken, und es klang wie tausend Seufzer der jungen Männer Selamas. Nathos senkte den Kopf. ‘Nein,’ flüsterte er. ‘Nein, dies ist nicht die Brandung Ethas. Nicht der Wind, der in Ethas Berghöhlen seufzt. Diese Klippen sind nicht die meinen. O Darthula, die Winde haben uns belogen. Dies hier ist nicht Ethas Küste, nicht das Land des alten Usnoth.’

Da kam auch schon Ardan zurück, der die Gegend erkundet hatte. Er brachte schlechte Nachrichten. Denn er hatte die niedergebrannten Mauern Selamas gesehen, und Kairbars Heer lagerte noch immer in der Ebene. Draußen auf dem Meer aber erhob sich der Sturm mit bisher ungekannter Gewalt. An eine erneute Ausfahrt war nicht zu denken. Ihre Flucht hatte ein Ende. Finster legten sie ein letztes Mal die Harnische an. Nathos riß sein Schwert aus der Scheide und hob es hoch in den Himmel. ‘Ihr aufgewühlten Meereswellen!’ rief er. ‘Und auch Du, verräterischer Sturmwind! Glaubt Ihr etwa, ihr seid es, die Nathos an dieser Küste festhalten? Nein, fürwahr, nie wich Nathos einem Kampf aus, und auch ohne Euch würde er dem wilden Kairbar standhalten.’ Er blickte sich um, denn nun hatten die Winde die Wolkendecke zerrissen, und das Licht des vollen Mondes erhellte plötzlich Turas Bucht. ‘Althos,’ befahl er, ‘dort im Felsen sehe ich eine Höhle. Bring Darthula dorthin. Darthula, Geliebte, sieh nicht hin, wenn Usnoths Sohn stirbt. Doch wenn ich falle, ich bitte Dich, trag mein Schwert heim nach Etha. Sag dort dem König, daß mein Ende ruhmreich war. Sag ihm, ich fiel inmitten Tausender, und mein Sinn war nicht auf Flucht gerichtet. Ethas Mädchen sollen für uns Lieder anstimmen. Denn Usnoths Söhne wissen zu sterben.’

Darthula aber drückte sich den Kupferhelm auf die braunen Locken. ‘Sieh,’ sprach sie. ‘Dort auf den goldenen Wolkenrändern sehe ich die Helden Selamas sitzen. Dort, ganz in Nebel gehüllt, ragt der edle Kolla empor, und traurig an seiner Seite steht Truthil. O Truthil mein Bruder, mein Vater Kolla. Seht herab auf Selamas letzte Tochter. Nein, wahrhaftig, niemand soll sagen dürfen, Darthula habe die Flucht gewählt. Auf, auf, ihr Söhne Usnoths, schon sehe ich das Morgenlicht herannahen.’

Der Morgen kam, und stärker und immer stärker brauste der Sturm auf. Und mit dem Sturm kamen die Krieger Kairbars heran, schwarze Wellen von Eisen und Stahl, Nathos hatte sie geweckt, laut schlug er gegen seinen blauen Schild, weithin hallte sein herausfordernder Kriegsruf über Selamas Ebenen. ‘Ach,’ rief er aus, ‘daß kein Barde sich Nathos’ erinnert! Wenn doch Ossian käme aus Morven und sänge an Nathos’ Grab. Doch Morven ist weit, und nicht werden die Sänger Kairbars den Fremden preisen.’ "

Der Alte ließ die Finger über die Saiten der Harfe gleiten. Und selbst ich unmusikalischer Ignorant konnte erkennen, daß sein Instrument nun nicht mehr weiter gestimmt werden mußte. Die längste, stärkste Saite gab dumpfe, tiefe Klagetöne von sich, als er sie anrührte. Verlorene Seelen im Nebel.

"Wir saßen in Morven ums Trinkhorn," murmelte er, mehr zu sich selbst als zu mir. John Wolf knurrte leise. Der Hund schien nach den Nebeln schnappen zu wollen. "In Morven, dem widerhallenden Morven hielt Fingal sein Gastmahl, der große König der Schwerter, und die Helden Erins saßen in seinem Saal. Da sprang das hohe Tor auf . Ein Windstoß fuhr herein. Und leise, leise begann die Harfe Ossians zu klingen. Fingal hörte es als erster. ‘Einer meiner Helden stirbt,’ murmelte der König. Ossian griff zu seiner Harfe, und in diesem Moment rissen vier Saiten."

Die Finger des Blinden glitten über die Saiten. Dunkle, tiefe Trauertöne schwankten durch den Nebel, ein jeder von ihnen wie der letzte Klang einer zerreißenden Saite. Dann erhob er seine Stimme und sang, sang das Lied von Darthula und Usnoths Söhnen, ein Lied aus alten Zeiten, das Lied, das zu singen er hergekommen war:

Lied für Darthula

Wie besing ich Dich, Darthula,
Mädchen, das auf wilder Flucht
strandete in Turas Bucht,
als die Winde und die Wogen
Deine weißen Segel trogen,
wie besing ich Dich, Darthula?

Kollas Tochter, holdes Kind,
traurig seufzt Dein Haar im Wind,
dunkle, braune Lockenpracht
spiegelt Sternlicht in der Nacht,
Mädchen aus Selama.

Nicht verzweifle, Dunkle, Schöne,
sieh! noch stehen Usnoths Söhne,
Nathos, Althos in der Tiefe,
keiner je von hinnen liefe,
Ardan, Licht der Jugend.

Winde trogen Deine Segel,
Erins Schöne,
Usnoths Söhne,
feste Planken, Eichenkiel,
wurden doch dem Sturm zum Spiel,
und die wilden, salz’gen Wogen,
Mädchen, haben Dich belogen,
trogen Deine Segel.

Nicht sind dies die Berge Ethas,
Nathos’ Klippen sind es nicht,
nicht sein Wald, sein Felsen nicht,
nicht die Hügel Ethas.

Weit ragt Erin in die See,
langgestreckter Höhenzug,
Turas Bucht umfing den Bug.
Schon sieht Ardan in der Näh’
Cairbars dunkle Schaaren.

Südwind, wo bist Du gewesen?
Sah Dich in den Feldern spielen
und nach Distelbärten schielen.
Frührot bringt wohl Morgenlicht,
Du bringst Oskars Segel nicht.
Südwind, wo bist Du gewesen?

Traurig, finster Althos spricht:
„Dies sind Ethas Felsen nicht.
Sturmgebraus wird sich erheben,
Heere schon zur Küste streben.
Cairbars dunkle Schaaren
seh’ ich tausend Schwerter heben.“

„Laß sie tausend Schwerter heben,
nie wird Usnoths Sproß erbeben!“
rief der König Ethas.

„In den Felsen birg Dich, Schöne.
Nicht blick’ hin auf Usnoths Söhne.
Schließ die Augen, wenn ich falle.
Trag mein Schwert in Ethas Halle.
Dort soll Saitenspiel erklingen,
Ethas Mädchen sollen singen
von den Söhnen Usnoths.“

„Nicht,“ sprach Kollas Tochter, „werd ich
Dich verlassen,
laß mich fassen
dort im Bug die Kupferwaffen,
laß mich Schild und Harnisch raffen.
Wellen, Stürme, Winde, Wogen
haben meine Fahrt belogen,
doch noch nie hat mich getrogen
auf der Jagd der Eschenbogen.“

Also stieg empor die Sonne
und beleuchtet Cairbars Heer,
finster wie ein zweites Meer.
Schwarz, in wilden, dunklen Wogen
kamen sie herangezogen.
„Hier steht Nathos, Ethas König!
Cairbar, Held im dunklen Wagen,
laß uns diesen Kampf austragen
um Selamas Schöne!“

„Wer ist Nathos,“ grollte Cairbar.
„Nicht ist seiner bei den Namen,
die mir schon zu Ohren kamen.
Hast Du Ahnen? Tausend nenn’ ich
meine. Nicht die Deinen kenn’ ich.
Nicht kämpf ich mit Unberühmten.“

Dunkel schimmert Nathos’ Auge.
„Für des alten Usnoth Ehre!“
rief er aus - drei schlanke Speere
flogen aus der Hand der Brüder,
drei der Fremden stürzten nieder.
Wild sie ihre Schwerter zogen.
Tausend schwarze Pfeile flogen.

Einst im Feld drei Eichenbäume
sah ein Wandrer stehn.
Kam ein Sturmwind, warf sie nieder,
abends kam der Wandrer wieder,
war nichts mehr zu sehn.

Also fielen Usnoths Söhne
in der grünen Bucht von Tura.
Cairbar kommt, er sieht die Schöne,
sieht sie stehn und spricht voll Hohn:
„So war Schutz Dir Ethas Sohn,
Mädchen von Selama?“

Nieder sank der Schild Darthulas,
nieder sank der Eschenbogen.
Kam ein schwarzer Pfeil geflogen.
Nieder sank Darthula.

Auf den toten Nathos nieder
floß ihr Haar herab.
Blumen bringt der Frühling wieder,
doch kein Barde alter Lieder
brächte je Darthula wieder
aus dem dunklen Grab.

Die Stimme des Alten hallte noch lange in den Nebeln nach, als er schon langst geendigt hatte. Eine seltsam fremde Stimme war das, eine, die man sicher nirgends auf CD kaufen konnte. Konnte ein Mensch wirklich in dieser Weise durch den Nebel hindurchsingen, so unwirklich und doch auf eine erschütternde Weise um vieles echter, als die Lieder, die man in den Musikalienhandlungen bekam? Und wenn das alles gar nicht wahr sein mochte, konnte eine Fälschung so weit durch den Nebel singen, durfte das sein?

"Wer sind Sie?" fragte ich. Doch der Blinde schüttelte nur abwehrend den Kopf. "Nur ein alter Mann, den es nicht gibt," lächelte er und hängte seine Harfe wieder über die Schulter. "Ich hoffe, ich bin dir nicht lästig gefallen mit meinen Nebeln. Ein wenig wunderlich magst du mich wohl finden." "Weiß selbst nicht so genau, ob es Leute wie mich wirklich gibt," entgegnete ich.

Irgendwo dort vorne schien sich der Nebel zu lichten, und tatsächlich, nun spürte ich auch, wie sich ein leichter Wind erhob. Und es war nicht der trügerische Wind Darthulas aus der alten finsteren Zeit, der hier die Nebel auseinanderschob, dies hier war mein Wind, ein Freund, knurrig und launisch vielleicht, mit Ecken und Kanten wie jeder wirklich richtige Freund. Er würde mir zuliebe sicher niemals seine Richtung wechseln, aber ich hatte es gelernt, mit ihm umzugehen. Und solange Ludolf am Kartentisch der Himingläfa hockte und ich den Steuerkompaß im Auge behielt, wie sollte da Platz sein für Betrug und Irrtum?

Als ich mich umwandte, um dem Alten eine diesbezügliche Bemerkung zu machen, war er verschwunden. Nur John Wolf stand hinter mir, ein schwarzes, freundliches Ungeheuer in den sich lichtenden Nebeln, das fröhlich mit dem Schwanz wedelte, als sei nichts geschehen. Und da lag ja auch mein Schlauchboot. Es war die ganze Zeit über kaum fünf Meter von uns entfernt gewesen. Auf dem Meer schaukelte die Himingläfa, sie waren alle drei oben an Deck, Ludolf, Theodor und Clara, und winkten aufgeregt zu uns herüber. Ich winkte beruhigend zurück, es ging mir gut, ich war unversehrt.

Vorsichtig schob ich das Schlauchboot ins Wasser, half dem ungestümen Hund hinein und paddelte nach Hause, der Himingläfa zu. Sonne, Wind und Zeit trieben die Nebel immer weiter auseinander. Als wir beim Schiff anlangten, war die Sicht so klar, wie seit Tagen nicht mehr. "Und?" fragte Ludolf statt einer Begrüßung. "Hast du mir etwas mitgebracht?" "Vielleicht," sagte ich.





© Petra Hartmann