Das Mädchen mit den Zöpfen

Matthissen blickte verwirrt auf, als der kleine bunte Ball genau vor seinen Füßen aufsprang.

"Entschuldigung," qietschte das kleine Mädchen, das geworfen hatte, und griff eilig nach der Gummikugel.

"Schon gut," brummte Matthissen freundlich. Dann stockte er und sah genauer hin.

Seltsam, dachte er. Er hatte geglaubt, hier unten im Hafen könne ihm nichts mehr begegnen, das ernsthaft imstande wäre, ihn zu beunruhigen. Aber diese Kleine. Es war nicht ihr Gesicht. Ein kleines Mädchengesicht, wie es in diesem Alter alle haben. Seine Tochter hatte genauso ausgesehen damals. Auch nicht das kurze weiße Kleidchen, das im Wind flog, als sie mit ihrem Ball davontollte. Matthissens Augen verengten sich und fixierten die hellblonden Zöpfe der Kleinen. Wie zwei Fahnen flatterten sie hinter ihr her, fest gebunden mit zwei straffen Haargummis, rechts rot, links grün, und Matthissens Hände begannen zu zittern.

Jens Matthissen war beinahe sein ganzes Leben lang zur See gefahren. Damals im Krieg schon, und später dann als Fischer auf der Lachmöwe und auf der Helmine. Es hatte immer irgendwie gereicht zum Leben, große Sprünge hatte er zwar nie machen können, aber das Gefühl, wenn einem draußen auf See Wellen und Sturm ins Gesicht schlugen, das hätte er um nichts in der Welt eintauschen mögen, und daheim hielt Helmine, seine Frau, das Geld zusammen, und sie waren immer irgendwie über die Runden gekommen.

Da lief sie wieder vorbei, die Kleine mit den wehenden Zöpfen. Matthissen sah das grüne Haargummi aufblitzen, ein helles, grelles Neongrün im leuchtenden Blond, gar nicht so grün wie Wiesen oder Bäume hielt es die pralle Haarpracht des linken Zopfes zusammen, der flatterte hinter ihr her. Wie der im Wind flog. Matthissen holte tief Atem.

Vor zehn Jahren war Helmine gestorben. Und als wäre das noch nicht Unglück genug, waren ihm in den beiden darauffolgenden Jahren die Heringsschwärme ausgeblieben. Eine Pfändung folgte schließlich auf die andere, und am Ende hatten sie sogar seine Liebe zwangsversteigert, das kleine Kajütboot, auf dem Helmine und er ihren Lebensabend hatten verbringen wollen.

Mein Gott, wie flink die Kleine hin und her lief. Und das rote Haargummi auf der rechten Seite des Kopfes leuchtete weithin sichtbar. Wie biß das in den Augen. Knallrot, hellrot, wie helles Blut aus der Arterie. Es tat so weh.

Im Hafen kannten sie ihn. Jens Matthisen, ein kleiner, verknitterter alter Mann, der sich mit Wetter und Schiffen auskannte wie kein zweiter. Jens Matthissen, der jeden Nachmittag auftauchte, bei den Fischern nach dem Rechten sah und auch die Stege der Touristen mit den schneeweißen Yachten gewissenhaft abpatrouillierte und der am Ende stundenlang auf der Mole stand, zumeist neben der grünen Laterne, die die rechte Seite der Hafeneinfahrt markierte. Jens Matthissen, von dem alle befürchteten, er würde sich eines Tages noch eine Lungenentzündung holen, weil er zu lange dort draußen im Wind stand und nach Schiffen Ausschau hielt.

Seine Enkelin mochte jetzt etwa im selben Alter sein. Aber Nina wollte nicht, daß sie den Großvater besuchte. Wie mochte das wohl gehen, solche Zöpfe zu binden.

Matthissen war wohlgelitten im Hafen. Die Fischer akzeptierten ihn immer noch als einen der ihren, und wenn er auch Pech gehabt hatte im Leben, so galt er doch als derjenige im Hafen, der von allen am meisten über Wetter und Seefahrt wußte, und Hannes Jensen, dem er schon einmal die rote Backbordlaterne seines Kutters repariert hatte, sagte von ihm anerkennend, Matthissen könne denken wie ein Schiff.

Wieder kam die Kleine zurück, mit wehendem Kleid und verkratzten Knien, wie sie Kinder in dem Alter öfters haben. Die Zöpfe flatterten lustig im Wind, weithin leuchteten die signalfarbenen Haargummis, rechts rot, links grün. Schwer atmend starrte Matthissen auf das knallige Grün, dann wie hypnotisiert auf das helle Rot des rechten Gummis. Der Anblick würde ihn in den Wahnsinn treiben, das spürte er. Matthissen taumelte. Schließlich hielt er es nicht mehr aus.

Er zog ein klebriges Hustenbonbon aus der Tasche und hielt es der Kleinen hin. "Möchtest du?" Sie kam zögernd näher. Mißtrauisch beäugte sie den alten Mann, doch dann griff sie zu. "Brauchst keine Angst haben," lockte Matthissen freundlich. "Ich tu dir nichts." Unendlich vorsichtig streckte er die Hand aus und strich ihr übers Haar. "Deine Zöpfe," flüsterte er. Behutsam löste er das grüne Haargummi.

Wenig später tollte ein kleines Mädchen hinter seinem Ball her über die Hafenmole, und die hellen blonden Zöpfe wehten hinter ihr her, zusammengehalten von zwei straffen Haargummis, rot an Backbord, grün an Steuerbord, wie es Seestraßenordnung und Seeschiffahrtsstraßenordnung vorschrieben für die Kennzeichnung von Schiffen und Fahrwassern, und die Kleine wollte es nie wieder falsch machen.