Johannes Küchlein

Helgoland, hochaufragender roter Felsen im Meer, weitabgelegen von Festland und Festlandsvolk. Die kleine Insel hatte bittere Armut kennengelernt und Hunger, unbarmherzig wie die See selbst, aber auch den märchenhaften Reichtum, den plötzliche Heringsschwärme mitgebracht und ebenso plötzlich wieder mit sich fortgenommen hatten, hinaus ins weite, unergründliche Meer, dem die Helgoländer alles verdankten, Gutes wie Schlechtes, alles das jemals den roten Felsen berührte.

Die Jahre nach dem Verschwinden der Heringe waren die furchtbarsten, an die sich Helene erinnern konnte. Aber an eines konnte sie sich nicht erinnern, sosehr sie auch grübelte und nachsann, und das war, ob es denn damals in der schweren Zeit auch nur einen einzigen Helgoländer gegeben hatte, der der Insel den Rücken kehrte, um auf dem Festland sein Heil zu suchen. Nein, wahrhaftig, dachte sie, selbst während der härtesten Hungerjahre war niemand auch nur auf die Idee gekommen, den roten Felsen jemals zu verlassen, an dem die Helgoländer mit jener seltsamen und unerschütterlichen Liebe hingen, die man wohl nur seiner Heimat entgegenbringen konnte. Man wurde geboren auf dem roten Felsen und am Ende wieder auf ihm begraben, und es gab nur eine einzige Ausnahme davon, nämlich wenn man auf See blieb. So war es seit jeher auf der Insel gewesen: Wer nicht auf dem kleinen Friedhof seine letzte Ruhe gefunden hatte, der konnte gar nirgends anders liegen als auf dem Grunde des Meeres. Und selbst Hunger und Not hatten nie vermocht, hieran etwas zu ändern.

Helene stampfte wütend mit dem Fuß auf. Sie stand auf der Treppe, die das helgoländische Unterland mit dem Oberland verband, 126 Stufen, die am roten Felsen aufwärts führten, und es staubte leicht unter den Füßen des jungen Mädchens. Jetzt, jetzt wo die Helgoländer das Lotsenmonopol für die Elbmündung und alle Häfen im Umkreis erlangt hatten und gut, wenn auch nicht ausschweifend, leben konnten, jetzt mußte er gehen, fort von der Insel und fort von ihr. Helene seufzte leise, sie achtete nicht darauf, wie der Wind an ihrem Rock riß, wie er ihren roten Turban aufzulösen versuchte, sie schaute nur hinab in den Hafen, wo eben die Schnigge von Klaus Küchlein ablegte, der seinen Bruder Johannes wegbrachte, nach Hamburg oder Altona, irgendwohin, fort vom roten Felsen. Hochwasser und ein tüchtiger Nordwind würden das ihrige tun, das Schiff würde gute Fahrt machen.

"Mußt nicht weinen, Lehnchen." Eine schwere Hand legte sich auf ihre Schulter. Ihr Bruder Heinrich war unvermerkt herabgestiegen. Er trug die schlichte, zweckmäßige Kleidung der Helgoländer Lotsen, und in seiner Hand blinkte glückverheißend seine Lotsenmarke auf. Helene hatte oft genug zugesehen, wie die Lotsen um die Handelsschiffe losten, sowie sie am Horizont sichtbar wurden. Da warf jeder sein Lotsenzeichen in die Mütze, und wessen Marke gezogen wurde, der bekam das Schiff zugesprochen. Heinrich war also glücklich gewesen dieses Mal und würde nun hinausfahren und den vorbeikommenden Kauffahrer sicher durch Riffe und Untiefen hindurchgeleiten. Warum nur konnte Johannes kein Lotse werden? "Nicht weinen, Schwesterchen. Den Johannes, den kannst du doch nicht kriegen," flüsterte Heinrich ihr ins Ohr. "Der ist viel zu fromm für uns, und uns alle hält er für entsetzlich gottlos. O der Johannes ist ein kluger Mann, der fährt nach Hamburg oder Altona und wird Pastor, und später will er die ganze Welt bekehren. Sieh’s ein, Schwesterchen: Den Johannes, den kannst du nicht haben."

Er zog sein nicht eben sauberes Taschentuch hervor und tupfte ihr vorsichtig die Tränen ab. Helene schaute auf seine Hände, breite, schwere Hände; Hände, die eine Schaluppe durch jede Brandung lenken konnten, denen selbst mächtige Nordwinde das Ruder nicht entreißen würden. Wie anders sah die schmale weiße Hand des jungen Theologiestudenten aus, der dort unten zum Festland davonfuhr. Klaus Küchlein tat gut daran, seinen Bruder fortzubringen, dachte Helene bei sich. "Mußt nicht traurig sein, Helene," murmelte Heinrich noch einmal. "Schau, dort draußen kommt ein Segler, den lotse ich bis nach Cuxhaven oder wo immer er hinwill, und dann, dann bring’ ich dir ein schönes rotes Halstuch mit nach Hause, daß du dich freuen sollst. Aber nicht mehr weinen, Schwesterchen."

Heinrich stieg die Treppe vollends hinab. Helene sah ihm nach, wie er mit seinem breiten, schwankenden Seemansgang hinunter zum Hafen eilte, wo sechs Ruderer schon auf ihn warteten. Sie würden ihn hinausbringen zu dem stattlichen Dreimaster, der eben am Horizont aufgetaucht war. Heinrich war ein guter Lotse, schon vor einigen Jahren hatte er sein Lotsenpatent mit Auszeichnung erworben, und das Meer kannte er, wie es nur ein Helgoländer Lotse kennen konnte. Der fremde Kapitän würde zufrieden mit ihm sein. Noch einmal schaute Helene nach der mächtigen Schnigge der Küchleins hinüber, die sich schon ein gutes Stück von der Insel entfernt hatte. Nur Klaus Küchlein war noch ein besserer Seefahrer als Heinrich. Warum nur konnte Johannes nicht ein klein wenig so sein wie die beiden.

Helene wandte sich ab und erklomm die letzten Stufen bis zum Oberland. Seltsame Treppe, dachte sie. Hier hatte sich damals das Schicksal der Insel entschieden, damals, als die Heringe kamen. Wenn man der Legende Glauben schenken wollte. Jahrelang, so hieß es, seien die Heringe aus allen Himmelsrichtungen zu den Ufern der kleinen Insel herbeigeströmt, das Meer um Helgoland habe gekocht und Blasen geworfen, so dicht seien die zappeligen Fische durcheinander geschwommen und gesprungen. Ein Anblick mußte das gewesen sein, Tausende und Abertausende von silberblitzenden Fischleibern im Sonnenlicht, wie von Tausenden von Spiegeln mußte die Insel umglitzert gewesen sein. Ja, man sagte, bis auf den Strand herauf seien die Fische gesprungen, und man mußte sie nur noch einsammeln, so einfach war das. Aber dann kam der Tag, an dem drei kleine Heringe versuchten, die Treppe zum Oberland hinaufzuspringen, und da habe eine alte Helgoländerin den Besen genommen, und - einfach so ins Wasser zurückgefegt hat sie den silbernen Fischsegen. Das war das Ende der Heringsschwärme von Helgoland, und seitdem hatte sich kein einziger Heringsschwanz mehr blicken lassen vor der Insel. Nein, dachte Helene, als sie das Oberland erreichte, mit dem Lotsenprivileg sollte man wahrhaftig vorsichtiger umgehen als mit den Heringsschwärmen. Der Johannes soll seinen Gott bitten, daß er uns das recht lange erhält. Helene nickte den Lotsen zu, die oben am Felsen über der Mauer lehnten und das Meer beobachteten, dann eilte sie nach Hause, wo die Mutter bereits auf sie wartete.

Da standen sie, die Fischer und Lotsen am Falm, pfeifenrauchend über die Brüstung gelehnt, und sahen zu, wie Heinrich in dem kleinen Boot hinübergerudert wurde zu dem Kauffahrer. Einige hatten Ferngläser dabei, doch die meisten benötigten dergleichen Geräte nicht, selbst im hohen Alter blieben die Augen der Helgoländer Seefahrer klar und scharf wie die der Möwen und Seeadler. Doch nun, wahrhaftig, plötzlich trauten selbst die scharfäugigsten unter ihnen den eigenen Augen nicht mehr, und diejenigen, die ein Fernglas besaßen, putzten verwirrt die Linsen und starrten ungläubig hinüber zu dem fremden Schiff.

"Warum wird er denn nicht langsamer," fragte verärgert ein alter Fischer. "Glaubt der vielleicht, ein Helgoländer Lotse könne an Bord fliegen?" Und dann geschah das Undenkbare. Der Segler glitt an Heinrichs Boot vorbei, segelte achtlos an ihm vorüber, als sei nichts geschehen, und fuhr davon, ohne den Lotsen an Bord zu nehmen.

Für eine schreckliche Sekunde herrschte Totenstille am Falm. Dann warf einer der Lotsen seine Mütze zu Boden und stieß einen gotteslästerlichen Fluch aus. "Das kann er doch nicht machen," sagte einer mit zitternder Stimme, und der, der die Mütze geworfen hatte, sprach aus, was alle dachten: "Wir haben ihm einen Lotsen geschickt und also unserer Christenpflicht genüge getan. Nun lasset uns beten: Gott segne unsern Strand." "Gott segne unsern Strand," wiederholten die Lotsen. "Er lasse das Schiff scheitern und schenke uns Zucker und englische Tuche und was immer der Kauffahrer noch geladen hat."

"Ich kenne das Schiff," nahm nun ein anderer das Wort. "Es ist die Victorie. Ich lotste sie vor einem Jahr durch den übelsten Sturm, den ihr euch vorstellen könnt. Aber als wir in Cuxhaven anlangten, da schimpfte der Kapitän alles, was er wußte, auf unsere spitzbübischen Lotsengelder. Ich wollte wirklich, es risse ihm den Kiel auf."

"Ach, Freunde, wir wollen es nüchtern betrachten." Es war der älteste der Lotsen, der seine Stimme erhob. "Der Kapitän vertraut auf das hohe Wasser, und wenn er sich nicht gerade auf die Lange Bank verirrt, dann wird er sein Ziel auch wohlbehalten erreichen."

Die Lotsen gaben ihm schweigend Recht. Weit lehnten sie sich hinaus über die Mauer und beobachteten den Segler, der sich weiter und weiter von der Insel entfernte. Schon schien alle Hoffnung verloren, als einer von ihnen ausrief: "Wartet mal, Freunde. Die Schnigge dort vorne, wer sitzt da eigentlich drin?" - "Der Strandvogt," hieß es. "Klaus Küchlein, der bringt seinen Bruder Johannes nach Hamburg oder Altona." "So gebe ihm Gott genügend Verstand, um uns alle den Winter über zu versorgen. Denn daß die Victorie keinen Lotsen an Bord hat, das muß er doch sehen."

Mit scharfen Augen und angehaltenem Atem beobachteten die Lotsen, was sich dort draußen auf dem Meer abspielte. Sei es, daß der Kapitän der Victorie nun doch Angst vor der eigenen Courage bekommen hatte, sei es, daß er von Anfang an dem Schiff des Helgoländers folgen wollte, um die Lotsengelder zu sparen, der Dreimaster schlug den Kurs der Brüder Küchlein ein und folgte der Schnigge in einigem Abstand durch die Wellen.

"Er tut es," murmelte ein Lotse, "er folgt Klaus. Und seht ihr, wie er ganz langsam auf die Lange Bank hindreht. O er weiß es nicht, er ahnt es nicht. Klaus wird mit seinem flachen Boot ohne Probleme hinüberkommen, und dann, dann wird das Schiff - - was ist das!" Die letzten Worte hatte er geschrien. Fluchen und Schimpfen wurde am Falm laut. Das Boot der Küchleins, das eben noch in schnurgerader Fahrt auf die Bank zugehalten hatte, war plötzlich nach Steuerbord abgeschwenkt und nahm nun Kurs auf das tiefe, sichere Fahrwasser. Doch dauerte es nur wenige Sekunden, dann richtete sich der Bug wieder auf die Lange Bank, und diesmal, diesmal - Aus zwanzig Kehlen erscholl ein lautes Hurrah!, dann stürmte alles, was Beine hatte, hinunter zum Hafen, Boote wurden klargemacht zur Fahrt hinaus auf die Lange Bank. Die Victorie war gescheitert.

Johannes Küchlein lag zappelnd unter seinem Bruder Klaus, der kniete ihm auf der Brust, und mit der linken Hand lenkte er sein Schiff geradeaus über die Lange Bank hinweg. In einem unbeobachteten Augenblick war es dem jungen Theologen gelungen, den Bruder vom Steuer wegzustoßen und das Schiff herumzureißen. Doch den kräftigen Fäusten des Lotsen hatte er nichts entgegenzusetzen gehabt, bald war er niedergerungen, und Klaus hatte sich weder durch Bitten noch durch Bibelzitate von seinem Kurs abbringen lassen. "Das verstehst du nicht, Kleiner," hatte er gesagt und nicht weiter auf den schimpfenden Bruder geachtet. Sein Gesetz war nicht auf dem Sinai gegeben, sondern auf dem roten Felsen von Helgoland, den er nie verlassen würde.

Erst als die Victorie unentrinnbar in der Falle saß, gab Klaus den Bruder frei. "Es ist vorbei," sagte er sanft. Dann richtete er gleichmütig die Segel, um Johannes fortzubringen, nach Hamburg oder Altona, wo er sicherlich besser aufgehoben sein würde als auf der Insel.





© Petra Hartmann