Neanth

I.

Irgendwann zwischen 1200 und 600 v. Chr., gegen 6 Uhr vormittags

Das Meer ruhte sanft und dunkel vor der Küste der Insel, und nur wer genau hinsah, konnte erkennen, daß es hier eine leichte Strömung gab, die, aus dem fernen Thrakerland kommend, schon oft Gegenstände von dort an den Strand gespült hatte. Manchmal war es Treibholz, das die Inselbewohner dankbar als Geschenk der Wellen annahmen, manchmal aber auch Töpfe und tönernes Gerät in der fremdartigen Machart der seltsamen Barbaren aus dem Norden.

Noch hatte Eos, die rosenfingrige Göttin der Morgenröte, nicht ihre volle Farbenpracht entfaltet, und erst einige Wölkchen am östlichen Himmel hatten sich ein wenig gefärbt, als die nördliche Strömung erneut ein eigenartiges, verwirrendes Geschenk auf den Strand der Insel zutrug. Zuerst war es nur ein sehr sehr leises Raunen, vielleicht wie ein ferner Wind geklungen hätte, doch herrschte absolute Windstille über den Wassern um die Insel herum. Die sonderbaren Geräusche kamen näher, und nun waren schon einzelne Töne und Teile von Melodien zu unterscheiden, dann ganze Lieder, die von Norden her mit der Strömung auf die Insel zutrieben, und die Fischer in ihren kleinen Hütten fragten sich verwundert, was denn dort draußen auf See vor sich ginge. Keinen einzigen hielt es mehr auf dem Lager. Männer, Frauen, Kinder, alles strömte hinunter zum Strande und starrte aufgeregt in die Richtung, aus der die zauberischen Klänge kamen. Niemals zuvor, darin waren sich alle einig, hatten Menschenohren eine Musik vernommen, die sich mit dieser messen konnte; es war, als griffe dort draußen auf dem Meer Phoebus Apoll selbst in die Saiten, und die Leier des Gottes sang von allem Süßen und Schönen der weiten Welt, von Frohsinn und Liebe, aber auch von Schmerzen und vom bittersten, tränenreichen Tode und den nächtlichen Ufern der Unterwelt.

Den Fischern traten die Tränen in die Augen, und sie konnten immer noch nicht erkennen, was dort auf dem vom Frührot inzwischen wie frisches, fließendes Blut gefärbten Meer herangetrieben kam. Einige glaubten, in der Ferne einen kleinen schwarzen Schatten zu erkennen, der auf dem blutigen Meer näher und näher kam, und manchmal schien es auch, als handelte es sich um zwei Schatten, die, bald nahe beeinander, bald voneinander entfernt, zusammen über das Wasser glitten.

Noch immer regte sich kein einziges Lüftchen, und auch die Vögel, die sonst um diese Zeit ihr fröhliches Morgenkonzert schon längst aufgenommen hatten, schwiegen stille. Es war, als hielte die Natur den Atem an, um dem Lied vom Meere zu lauschen. Heller und heller klangen nun die Töne. Wer immer dort die Leier schlug, konnte gewiß kein gewöhnlicher Sterblicher sein.

Nun waren die beiden Schatten, denn es waren wirklich zwei Schatten, heran. Eine einzelne Welle aus dem blutigroten Wasser warf die beiden dunklen Gegenstände an den Strand. In dem Augenblick, in dem sie das Land berührten, brach das Lied ab.

II.

6. Jahrhundert v. Chr., ca. 12 Uhr mittags

Die Sonne hatte ihren höchsten Punkt erreicht, und der Alte redete noch immer. Neanth stöhnte innerlich. Gut, er hatte dem Gott dieses Tempels eine Hekatombe dargebracht, einhundert fehllos gewachsene Rinder mit vergoldeten Hörnern, wie es seiner Stellung als Sohn des Tyrannen und als Statthalter dieser Provinz geziemte. Aber warum in Apollons Namen mußte er sich jedesmal aufs Neue die Geschichte des Tempels erzählen lassen.

"Wenn Orpheus sang," erzählte der schwatzhafte Priester, "dann wurde das Meer ganz still, und auch der Wind schwieg, um ihm zuzuhören. Wilde Tiere, so heißt es, gezähmt vom Klang seiner Leier, schmiegten sich friedlich um seine Beine, Löwen und Luchse und selbst die grimmigen Wölfe des Nordlands, so schön waren seine Lieder."

Wir haben auch Wölfe auf der Insel, dachte Neanth. Vorhin hatte sich ihm wieder eine Frau in den Weg geworfen, die zerrissene Leiche ihrer kleinen Tochter, blutend und noch warm, in den Armen haltend. "Mach ein Ende, Sohn des Pittakos," hatte sie gefleht. "Rotte diese Bestien aus, ein für alle Mal." Als ob ein Statthalter nicht andere Sorgen hatte. Warum war das Balg auch allein am Strand herumgelaufen. Da kamen sie nun zu ihm. Dem einen hatte der Wind die Segel zerfetzt, dem anderen waren die Netze zerrissen. Was ging ihn das an. Was ging ihn das an. Aber nein, so durfte er nicht denken. Der Vater hatte ihn gelehrt, wie wichtig es war, sich beim Volk beliebt zu machen. Die einzige Lebensversicherung, die einzige Hausmacht, die der Vater mitgebracht hatte. Also in Apollons Namen, irgendwann, übers Jahr vielleicht, würde er der Wolfsplage ein Ende bereiten.

"Orpheus hatte die schöne Eurydike geheiratet, an der sein ganzes Herz hing," fuhr der Alte unverdrossen fort. "Aber dann, noch während der Hochzeitsfeier, erblich sie plötzlich und fiel tot zu Boden. Eine Giftschlange hatte sich unvermerkt unter die Gesellschaft geschlichen und die junge Frau in den Fuß gebissen."

Geschieht ihr ganz recht, dachte Neanth. Was läßt sie sich auch mit diesem Dichterling ein. Wir hatten früher auch Dichter auf Lesbos. Nichts wie Ärger hatte man damit. Zuletzt ging noch Alkaios weg, da saß er nun in der Verbannung, in Ägypten und schnob Wut und Rache. Manchmal kamen seine haßerfüllten Gesänge mit Kauffahrern herüber und lebten eine Zeitlang im Gedächtnis des Volkes, bis Pittakos wieder einmal die Getreidespeicher öffnete oder Gold verteilte.

"Und so stieg Orpheus von Apollon geleitet hinab in die Unterwelt und sang der Fürstin der Toten das Lied von seiner Liebe und vom Tode Eurydikes. So süß und traurig schallte seine Stimme durch den Hades, daß Persephone gerührt versprach, Eurydike solle ihm zurück in die Oberwelt folgen, sofern er sich auf dem Weg nach oben nur kein einziges Mal umdrehte."

Bedrohlicher waren da schon die Liebeslieder, die von Syrakus herüberkamen. Da saß die Tochter des Skamandronymos und sang Verse von gefährlicher Süße. Da sang sie von bunten Hauben und Geschenken, die sie ihrer kleinen Tochter nicht geben konnte, weil in Mytilene nun ein Tyrann regierte. Das rührte die Herzen des Volkes.

"Als aber Orpheus schon das Licht der Oberwelt sah und hinter sich nicht das leiseste Geräusch vernahm, da wandte er sich um und schaute nach, ob Eurydike ihm auch wirklich folgte. In diesem Moment wurde sie von den unterirdischen Dämonen zurückgerissen, und Orpheus stand allein im Licht der Mittagssonne und fand sie nicht wieder."

Das hatte die Syrakuserin auch erkannt. In den Hades werdet ihr alle hinabsinken, ungekannt, ungenannt, wie entflogene Vögel. Niemand wird sich an euch erinnern, wenn es aus ist mit euch. Nirgends auf Erden ist Unsterblichkeit außer im Liede des Dichters. Du hast keinen Anteil am Geschenk der Musen, hatte sie seinem Vater überheblich zugesungen, an uns aber wird sich, so denk' ich, noch mancher erinnern.

"Und so zog Orpheus durch das Land, unbehaust, unglücklich. Die fröhlichen Lieder hatte er verlernt, er mied Geselligkeit und Tanz, und von den Frauen seiner thrakischen Heimat wollte er erst recht nichts mehr wissen. So lebte er noch Jahre vor sich hin. Bis er eines Tages einem Schwarm von Mänaden begegnete, wilden Frauen, buntem, ausgelassenem Volke im Dienste des Weingottes. Mit lautem Jauchzen, efeubekränzt und voll des Gottes jagten sie durch Wald und Feld, und als Orpheus nicht mitjauchzen und trinken wollte, sondern stattdessen eines seiner traurigen Lieder anstimmen wollte, da kam die Wut über die Rasenden, und sie zerrissen den Sänger bei lebendigem Leibe in tausend Stücke."

Vielleicht wäre es besser gewesen, die Syrakuserin in tausend Stücke zu zerreißen, Vater. Der uns kränkt, den sollen Stürme umtreiben und seine Sorgen, hat sie gesungen. Hast du Sorgen, Vater?

"Den Kopf und die göttliche Leier des Orpheus aber warfen sie ins Meer. Und die Strömung trug beides von Thrakien bis an den Strand von Lesbos. Mein Ahnherr war dabei, als beides landete. Die Leier hängten sie hier im Tempel Apollons auf. Dort hängt sie noch immer. Den Kopf aber begruben sie mit allen Ehren in der geheiligten Erde der Insel. Und es heißt, daß zu allen Zeiten eine große Fruchtbarkeit von diesem Haupte ausging. Daher stammen heute noch die bedeutendsten Dichter von der Insel Lesbos, und man nennt sie nicht ohne Grund Die Sängerreiche."

Die Dichter, die du vertrieben hast, Vater. Ach, Vater, wer soll nun künden vom Ruhme des Pittakidengeschlechtes. Soll sich denn wirklich niemand finden, der unseren Namen aufhebt für die Ewigkeit. Der vom Ruhme Neanths kündet. O Vater, warum hat das Haus der Pittakiden keinen Dichter. Warum hängt auf unserem Lande die Leier des Orpheus, und niemand besingt unsere Taten.

Der alte Priester schwieg.

"Dies also ist die Leier des Orpheus, die den Schrecken des Totenreichs bezwang?" Der Priester nickte. "Wer dieses Wunderding besäße..." murmelte Neanth leise. "Wache!" Ein scharfer Ruf aus dem Munde des jungen Statthalters, und vier muskulöse Diener ergreifen den Priester, der in ohnmächtigem Zorn mitansehen muß, wie Neanth die Leier von der Wand reißt und sie mit gierigen Fingern hin und her wendet. Dann verläßt Neanth den Tempel.

 

III.

6. Jahrhundert v. Chr., gegen 6 Uhr abends

Die Abendsonne berührte schon fast den westlichen Horizont, als der junge Neanth zwischen den Uferfelsen hinaus auf den Strand trat. Den ganzen Tag über hatte der Sturm über der Insel gewütet, und auch jetzt noch fegten heftige Böen über Land und See und wühlten das Meer auf. Der Himmel hatte sich in ein eigentümliches Rot verfärbt, sturmgrau sprangen vor der Küste die Wellen übereinander. Triumphierend hob Neanth die Leier des Orpheus in den Sturm. Schwarze Wolkenfetzen jagten über den Himmel, an dem das Blutrot der untergehenden Sonne mit dem giftigen Gelb des Sturmes zusammenfloß. Neanth lächelte siegesgewiß. Orpheus hatte den Stürmen geboten, und nun würde er es ihm gleichtun.

Er ließ sich auf einem Felsen nieder. Jetzt war der Augenblick gekommen. Neanth griff in die Saiten. Er packte kräftig zu, riß sie an und erhob dazu seine Stimme, seine mißtönende, metallisch scheppernde Stimme. Es kratzte ein wenig im Hals, wie er sang; den Sturm zu übertönen war nicht leicht, doch Neanth heulte gegen den Lärm an, er schrie, so laut er es vermochte, und endlich, so schien es, hatte die lautstarke Kakophonie den Sturm überschrien. Immer heftiger riß Neanth nun an den Saiten der Leier, höher und höher schraubte sich sein Geschrei in den Sturmhimmel hinein. Der Lärm wurde lauter und lauter.

Plötzlich erschien es Neanth, als sänge er nicht mehr allein. Irgendwo in der Nähe hatte sich ein ähnliches Heulen aus rauhen Kehlen erhoben, das ihn zu überheulen suchte, da sang Neanth mit all seiner Kraft, lauter noch als er es bisher getan hatte, lauter und mißtönender als jemals zur Leier des Orpheus gesungen worden, Neanth heulte und schrie, und so laut jaulte er, daß tatsächlich das Tosen des Sturmes vor seinem Gesang verblaßte und auch das seltsame Geheul von ihm übertönt wurde. Plötzlich brach er ab.

Es war dunkel geworden am Strand, aber er sah sich umgeben von zahllosen hellen Lichtern, gelbliche Augenpaare, die ihn fixierten. Der entsetzliche Mißton hatte sie angelockt. Als er schwieg, verstummte auch das unheimliche Heulen. Die Wölfe, war das letzte, was er dachte. Dann sprang der Leitwolf.





© Petra Hartmann