Nicola Pesce

Nicola trat in den Saal und war einen Augenblick lang geblendet vom Schein der Kronleuchter und vom reichen Schmuck der Damen. Doch als die Hausherrin freudig auf ihn zueilte und ihn willkommenhieß, breitete sich ein strahlendes Lächeln über das Gesicht des jungen Italieners und offenbarte zwei entzückende Reihen perlweißer Zähne. Die Gastgeberin schlug die Hände zusammen, und als Ruhe eingekehrt war, sprach sie zu den Gästen: "Liebe Freunde! Ich habe die große Freude und das unaussprechliche Vergnügen, Ihnen einen jungen, begnadeten Nachwuchsschauspieler vorstellen zu dürfen, auf dem die größten Hoffnungen des hiesigen Theaters ruhen und der sich bereits als ausgezeichneter Schiller-Interpret einen Namen erworben hat: Herrn Nicola Pesce."

Man spendete wohlmeinend Beifall. Nicola fuhr sich verlegen mit der Hand durch die schwarzen Locken und lächelte, wie entschuldigend für die großen Worte, ins Publikum.

"Ha! Schiller!" rief der junge Poet aus. "Großer Vorkämpfer der Freiheit!"

Der Geheime Rath blickte mißbilligend zu dem Schriftsteller hinüber, der durch einige revolutionäre Schriften von sich reden gemacht hatte, doch die Augen des Fräuleins ruhten mit sichtbarem Wohlgefallen auf dem Dichter. Die alte Gräfin betrachtete Nicola von oben bis unten durch ihre Lorgnette.

"Nun, mein Bester," ließ sich der Baron in jovialem Ton vernehmen, "ich hoffe doch, Sie werden uns heute eine Probe Ihrer gerühmten Kunst geben."

"Das will ich gern tun," sagte Nicola bescheiden und fuhr sich noch einmal übers Haar. "Vielleicht haben Sie einen bestimmten Wunsch?" Er sprach sanft und akzentfrei und blickte mit freundlichen schwarzen Augen in die Runde.

Die Anwesenden sahen sich ratlos an.

"Kennen Sie vielleicht den 'Taucher'?" fragte schließlich der Professor.

Nicola nickte zögernd. "Er ist mir bekannt."

"Nun, so geben Sie uns in Gottes Namen den 'Taucher'," schloß der Baron forsch.

Eilends wurden Sitze gerückt. Nicola trat auf die improvisierte kleine Bühne, auf der zuvor die berühmte Sängerin einige Lieder vorgetragen hatte.

"Meine Damen und Herren, liebe Freunde der Kunst," kündigte ihn die Hausherrin an, "wir hören nun Friedrich Schillers unsterbliche Ballade 'Der Taucher', declamiert von Herrn Nicola Pesce."

Beifall brandete auf. Der schlanke Jüngling verbeugte sich leicht. Stille trat ein.

Nicola fuhr sich verlegen mit der Hand durch die schwarzen Locken und schloß die Augen.

Stille

<<Wer wagt es, Rittersmann oder Knapp’,

zu tauchen in diesen Schlund?>>

donnerte Nicola.

Der Baron, der schon eine anzügliche Bemerkung über Lampenfieber auf der Zunge gehabt hatte, bekam einen Hustenanfall. Der Major klopfte ihm den Rücken und sagte, nicht eben leise: "Donnerwetter, der Kerl hat ein Organ, wie geschaffen für den Kasernenhof."

Indessen hatte sich Nicola beim Vortrag nicht stören lassen. Seine Stimme wurde weicher, als er sprach:

<<Und ein Edelknecht, sanft und keck,

tritt aus der Knappen zagendem Chor,

und den Gürtel wirft er, den Mantel weg.>>

"Er spricht sehr schön," lispelte das Fräulein.

"Ja," flüsterte die alte Gräfin mit Kennermiene. "Glauben Sie mir, aus dem Jungen kann noch einmal Großes werden. Ich verstehe etwas davon."

<<Und es wallet und siedet und brauset und zischt>>, intonierte Nicola.

"Er übertreibt ein wenig," murmelte der Professor, mehr zu sich selbst.

Der Geheime Rath wandte den Kopf. "Es wäre interessant zu wissen, wie Schiller darüber dächte."

"Was meinen Sie, würde er sagen?" fragte der Professor leise.

Der Geheime Rath zuckte die Achseln.

<<Es riß mich hinunter blitzesschnell>>

"Er verausgabt sich zu sehr," wisperte die berühmte Sängerin.

"Ja," bestätigte die Gastgeberin, "ein wenig Ökonomie täte seinem Vortrag freilich gut."

<<Mich packte des Doppelstroms wütende Macht,

und wie ein Kreisel mit wirbelndem Drehn

trieb mich's um, ich konnte nicht widerstehn.>>

"Man hat tatsächlich das Gefühl, er ertrinkt gleich," sagte das Fräulein aufgeregt und ergriff die Hand des jungen Poeten. "Sehen Sie nur, die weitaufgerissenen Augen. Als ob er wirklich sähe, 'wie's von Salamandern und Molchen und Drachen/sich regt in dem furchtbaren Höllenrachen'."

"Seine Augen sind nichts im Vergleich zu den Ihrigen, mein Fräulein," entgegnete der Poet und hob ihre Hand an die Lippen. "Wahrhaftig, für einen freundlichen Blick aus Ihren Augen würde ich unserem verehrten Herrn König zwanzig goldene Becher wieder emportauchen. Und sei's auch aus dem Rhein. Kennen Sie übrigens das Gedicht, das Heine über die Lorelei gemacht hat? 'Ich weiß nicht, was soll es bedeuten...'?"

<<Da kroch es heran,

regte hundert Gelenke zugleich>>

"Sehen Sie nur," stieß die Hausherrin hervor, "er wird bleich. Das habe ich noch nie gesehen. Er ist wirklich großartig."

"Kein Mensch kann willentlich erbleichen," sagte die berühmte Sängerin. "Das ist unmöglich."

"Er hat eine große Zukunft vor sich," meinte die alte Gräfin. "Ich spüre es."

"Ich muß Sie beglückwünschen, Gnädigste," lobte der Baron. "Sie haben doch immer wieder die interessantesten Gäste."

"Ja, es ist wirklich ein gelungener Abend," pflichtete der Major bei. "Donnerwetter, was der Kerl alles im Gedächtnis behalten kann. Alle Achtung."

<<Es kommen, es kommen die Wasser all’.

Sie rauschen herauf, sie rauschen nieder.

Den Jüngling bringt keines wieder.>>

Nicola verneigte sich und verließ unter Applaus die Bühne. Jubelnd umringte ihn die beifallklatschende Schar, niemand wollte es sich entgehen lassen, dem künftigen Star auf die Schulter zu klopfen und ihm ein paar lobende Worte mit auf den ruhmreichen Weg zu geben. Nicola schüttelte Hände, verneigte sich, dankte artig. Er wirkte etwas verlegen, was ihn aber den Gratulierenden nur sympathischer machte.

Plötzlich schrie die Gastgeberin auf.

"Großer Gott, Nicola, Ihr Haar!"

Nicola trat vor den großen Wandspiegel mit dem Blick eines Menschen, der die Hölle gesehen hat und nun durch nichts mehr zu erschüttern ist, und betrachtete seine schlohweißen Haare.

"Ach, wissen Sie," bemerkte er leichthin, "ich hatte seit jeher eine zu rege Phantasie."

Man redete noch eine Weile über Balladen im Allgemeinen und Schillers 'Taucher' im Besonderen, danach setzte sich die Gastgeberin ans Klavier und gab einige Stücke neuerer Komponisten zum Besten. Zur üblichen Zeit ging man auseinander.





© Petra Hartmann