Seitenstraße

Nein. Hören Sie, ich war nicht ganz ehrlich mit Ihnen. Ich fahre jetzt rechts ran und schalte den Motor aus. Es ist besser, wenn Sie hier aussteigen. Die kleine dunkle Straße da zur Rechten, ich habe gelogen, als ich Ihnen erzählt habe, daß ich da wohne. Es war nur so, ich wollte da nicht allein reinfahren. Nicht bei Nacht. Nicht in diese Straße. Aber jetzt: Sehen Sie, es ist einfach nicht richtig, ich kann es einfach nicht verantworten, einen wildfremden Anhalter da mit hineinzuziehen. Und wenn ich tausendmal umkomme vor Angst: Sie steigen hier aus, und ich fahre allein weiter.

Ich weiß auch, daß es verrückt klingt. Warum muß die dumme Kuh nun auch mitten in der Nacht in diese enge Sackgasse hineinfahren, werden Sie denken. Aber, sehen Sie, ich habe den ganzen Tag gebraucht, um all meinen Mut zusammenzusuchen, und außerdem, es war damals auch Mitternacht, müssen Sie wissen. Und verrückt? Das sind wir doch alle, mehr oder weniger. Gut, die meisten wohl weniger.

Mein Freund Arthur zum Beispiel, der war eigentlich gar nicht verrückt, oder, wenn Sie es so wollen, nur ein ganz ganz kleines bißchen. Sie haben es damals sicher gelesen. Ja, der Fall Arthur Königsstein ist schließlich durch alle Medien gegangen. Sehen Sie, und Arthur war wirklich ein hochintelligenter Mensch, so ganz ohne jegliche Verrücktheiten.

Er hatte bloß diesen einzigen kleinen Tick, von dem nur seine engsten Freunde wußten: Wann immer er für ein paar Minuten Zeit hatte, dann fuhr er mit seinem Wagen in die nächste beste Sackgasse hinein, in der irrsinnigen Hoffnung, die Behörden könnten sich ein einziges Mal beim Aufstellen der Schilder vertan haben. Ich habe mehrfach neben ihm gesessen, wenn er es tat, und manchmal mußte ich aussteigen und ihn mit Handzeichen wieder herauslotsen, wenn er sich total festgefahren hatte in so einer engen Straße. Was ihn dazu getrieben hatte, weiß ich nicht. Immer wieder fuhr er in Sackgassen hinein. Was immer er an ihrem Ende zu finden hoffte, es wird nichts mit dem zu tun gehabt haben, was wir beide für die höchste Erfüllung halten würden. Aber wahrscheinlich sah er den Sinn seines Lebens darin; darin, einmal eine Sackgasse zu finden, die weiterging.

Ja, und dann, dann ist es passiert. Ich habe ihn gesehen. Wie er da, in diese kleine Seitengasse zur Rechten abbog. Das war vor genau zwei Jahren und mitten in der Nacht. Ich stand an der Bushaltestelle da drüben und habe seinen Wagen sofort erkannt. Wissen Sie, den Wagen von Arthur Königsstein, den kann man gar nicht verwechseln, nicht einmal im Dunkeln, der hatte so eine eigenartig geformte Motorhaube, wie nach einem Totalschaden, Sie kennen solche Autos vielleicht, und ich denke noch so: Na, der kommt gleich wieder raus, dann kann er dich mitnehmen, brauchst du nicht mehr so ewig auf den Bus warten.

Aber er kam nicht wieder. Sehen Sie, ich weiß genau, was Sie jetzt denken. Aber ich habe bis zum Morgengrauen an genau dieser Stelle hier gestanden und auf Arthurs Rückkehr gewartet, dreimal ist ein Bus vorbeigekommen, aber ich habe weitergewartet, und dann, als es hell war, bin ich in die Straße hineingegangen und habe nachgeschaut. Er war verschwunden, die Straße war leer. Und seitdem habe ich ihn nie wieder gesehen.

Die Straße hat keinen zweiten Ausgang, ich habe das nachgeprüft. Und selbst wenn Arthur untergetaucht wäre, wenn er sich zu Fuß durch die Gärten davongemacht hätte oder über die Mauer am Ende der Straße, immerhin, die ist gut zwei Meter hoch, man hätte doch wenigstens sein Auto finden müssen, oder was meinen Sie?

Arthur jedenfalls war nie der Typ, der einfach so verschwinden würde, so ohne seine Termine abzusagen und ohne Briefe an seine Freunde. Er war immer korrekt und pünktlich, so regelmäßig wie ein Uhrwerk, wenn Sie verstehen, was ich meine.

Ich habe nie darüber gesprochen. Was hätte ich der Polizei auch erzählen sollen? Daß Arthur in diese kleine Sackgasse dort hineingefahren und nicht wieder zurückgekommen ist? Und meinen Freunden, Arthurs Freunden, mir hätte ja doch keiner geglaubt, und wie hätte ich dann dagestanden. Nur einmal, ein einziges Mal habe ich zu jemandem - hätte ich doch bloß meine Klappe gehalten. Das war genau ein Jahr später, wieder Mitternacht, wieder genau diese Bushaltestelle, als ich mit Karl zusammen hier stand und auf den Bus wartete. Ein Wort gab das andere, und ehe ich überhaupt richtig kapiert hatte, was los war, war schon die ganze Geschichte raus. Und Karl hat mich ausgelacht, sagte ich habe zuviel getrunken, und dann, dann ist er in die Straße hineingegangen, und dann, mein Gott, Karl.

Entschuldigen Sie. Es ist sonst nicht meine Art, Fremden mit Geschichten lästig zu fallen. Aber diese Straße da hat zwei meiner Freunde verschlungen. Ja, zwei. Denn daß ich Karl nicht wiedergesehen habe, können Sie sich sicher denken. Ich hab wieder bis zum Morgengrauen gewartet, stundenlang hier am Eingang der Straße, aber er blieb verschwunden.

Sehen Sie, und nun ist wieder derselbe Tag, dieselbe Stunde, und nun möchte ich es wissen. Wenn sich das, was schon zweimal geschehen ist, wiederholen sollte, dann ist jetzt der Moment dafür gekommen. Ich bin zweimal stehengeblieben, hab zweimal meine Freunde dort hinein verschwinden sehen, und zumindest beim zweiten Mal hätte ich es wissen müssen. Bei Arthur, nun, was immer auch damals passiert ist, es war ja das, was er suchte. Aber Karl. Ich hätte ihn nicht gehen lassen dürfen. Oder wenn, dann nicht allein, vielleicht, wenn ich ihm gefolgt wäre, daß dann - ich werde jetzt in diese Straße hineinfahren. Ich kann nicht anders. Was immer mich an ihrem Ende erwartet, in ein paar Minuten werde ich es wissen.

Ich sehe, Sie sind etwas blaß geworden. Ich habe auch Angst. Aber es ist wirklich besser, wenn ich allein weiterfahre. Nein, warten Sie, so bekommen Sie den Haltegurt nie auf. Sie müssen die Hände ganz ruhig halten. So, sehen Sie, es ist ganz einfach. Schlagen Sie die Tür fest zu, wenn Sie draußen sind, ja? Danke. Und leben Sie wohl. Ja, danke. Ich kann’s brauchen. Leben Sie wohl.

Mein Gott, ich dachte schon, ich werde den Kerl nie wieder los.





© Petra Hartmann