Vom Lächeln

Das graue, faltige Gesicht im Spiegel vor dem Automaten, fremd und viel zu alt, ihr eigenes. Seufzend nahm sie in der Kabine Platz und sortierte ihre Münzen, es half ja nichts. Nur ein Paßbild, murmelte sie, muß ja nicht schön werden. Ein letztes Mal las sie die Bedienungsanleitung durch, schraubte den Drehstuhl noch etwas nach oben, warf dann die Münzen ein und hielt den Kopf so, daß man das linke Ohr sah. Dann drückte sie den Startknopf.

Doch was war das? Dort, als letzter Punkt der Gebrauchsanweisung stand noch etwas, das sie bisher übersehen hatte. Den Kopf gerade haltend schielte sie hinunter auf die Tafel und buchstabierte mühsam: "Lächeln (wenn Sie es wünschen)." Lächeln? Nicht lächeln? Der Zusatz: "(wenn Sie es wünschen)" gefiel ihr. Sollte sie es vielleicht doch noch einmal versuchen mit dem Lächeln, trotz allem, sie wußte es nicht. Denn mit dem Lächeln hatte es doch damals angefangen, lächeln für ein Foto.

Es ist eine eigenartige Sache mit den Erinnerungen. Manche Leute, dachte sie, wissen noch so vieles aus ihrer frühen Kinderzeit. Was für Kleider sie trugen, oder wie sie von ihrem Großvater das erste Bonbon geschenkt bekamen. Aus ihrem Gedächtnis waren so gut wie alle Erinnerungen an die Kindheit getilgt worden, bis auf diese eine, kurze Szene, davor nichts mehr, und dann nur noch eine maßlose Enttäuschung, das Danach.

Es war der Tag, an dem die Mutter mit ihr zum Fotografen gegangen war. Sie, klein und schüchtern an der Hand der Frau, die fremden Geräte, da setz dich hin, sei brav, sitz still. Mein Gott, was hast du mit deinen Haaren gemacht. Und die Schokolade im Mundwinkel, mußt du mich immer so blamieren. Und während die Mutter noch an ihr herumreißt und das teure weiße Spitzenkleid geradezieht, steckt der fremde Mann seinen Kopf unter ein schwarzes Tuch und richtet die Linse auf sie. O mein Gott, Mäuschen, so lächle doch endlich. Und sie sitzt da und hat einfach nur Angst, und der fremde Mann sagt, es tut nicht weh, versprochen, und die Mutter schimpft und droht mit Schlägen, wenn sie nicht sofort lächelt. Sie hat aber nicht gelächelt. Sie will nur fort, weit weit weg, ans Meer vielleicht, nur raus hier, weg von diesem unheimlichen Mann unter dem Tuch und den furchtbaren Apparaten. Man lacht nicht, wenn man gerne wo anders wäre. Und dann fängt sie an zu weinen, mitten im Fotostudio, und vergräbt den Kopf in den Händen.

Soll sie lächeln? Die Stimme des fremden Mannes hat sie immer noch im Ohr. Sie erinnert sich an seine Worte, so als wäre es gestern gewesen. "Hör mal zu, mein Mäuschen," hatte der Mann unter dem Tuch gesagt. "Wenn du jetzt ganz artig bist und freundlich guckst, dann kommt hier aus dem Kasten ein kleines Vögelchen rausgeflogen. Und das singt wunderschön, nur für dich, mein Mäuschen, und fliegt weit in den Himmel hinein." Da wurde sie ganz aufgeregt. Was es denn für ein Vogel sei, wollte sie wissen, und ob er so schön bunt sei wie ein Rotkehlchen oder wie der Kanarienvogel des Nachbarn, darüber hatte sie das Weinen ganz vergessen. Gespannt behielt sie den schwarzen Kasten im Auge, lächelte. Und wartete, wartete auf den Vogel. Da flammte das Blitzpulver auf, sekundenlang war sie blind, und dann sollte sie dem Fotografen die Hand schütteln und einen Knicks machen und Dankeschön sagen. Als sie nach dem Vogel fragte, lachte der Mann nur. Und die Mutter sagte barsch, sie solle nicht so vorlaut sein. Und da verstand sie, daß der Mann gelogen hatte. Und daß fotografieren doch wehtut. Das hat sie nie vergessen.

Was zerbricht eigentlich, wenn jemand ein Versprechen bricht, dachte sie und schalt sich selbst eine kindische alte Närrin. Nein, sie würde nicht lächeln. Sie hatte es einmal getan, und auf den Vogel, der ihr versprochen worden war, wartete sie noch heute. Trotzig schob sie die Unterlippe vor. Da blitzte es.

Sie hatte genau in das Blitzlicht hineingesehen und war für einen Augenblick geblendet. Nur langsam gewöhnten sich ihre Augen wieder an die Dunkelheit der Kabine, vage erkannte sie die Umrisse ihres Kopfes in der spiegelnden Glasscheibe. Ein großes, trauriges Gesicht, dahinter Schatten, dunkel und verschwommen. Und dort, ganz weit hinten, glaubte sie, eine Bewegung zu erkennen. Sie riß die Augen weit auf, starrte ungläubig durch ihr Bild hindurch in die Schatten, und da war es wirklich, ein unendlich langsames Heben und Senken, schwere, breite Bussardflügel, und langsam, feierlich, so als hätte es eine Ewigkeit lang Zeit, kam es näher, näher. Sie hatte keine Angst. Sie saß da, sah ihm aufgeregt entgegen, wie er heranwuchs mit jedem Flügelschlag, größer, näher mit jedem Flügelschlag, breite, dunkle Bussardflügel wogten auf und nieder. Dann war er heran, genau über ihr breitete er die Flügel aus, so weit, daß sie die Flügelspitzen nicht mehr sehen konnte, die ganze Welt schien er zu umspannen, und sie wurde ganz ruhig, als sie ihn ansah. Dann schlossen sich die Flügel um sie.

Als man sie fand, machte man nicht viel Aufhebens darum. Eine alte Frau, die in einem Fotoautomaten gestorben war. Nur der Arzt, der den Totenschein ausstellte, dachte noch lange Zeit nach über das seltsam zufriedene Lächeln, das um die Lippen der Toten spielte.





© Petra Hartmann