Hölzerne Pranken

„Du gehst den Bären auf keinen Fall mit dem Messer an, hörst du? Bei deiner Größe langst du doch nicht bis zum Herzen hinauf, und alles andere würde ihn nur wütend machen.“

Ask nickte stumm. Arbor gab sich redliche Mühe, ihm rasch die Kenntnisse und Fähigkeiten zu vermitteln, derer ein Bärenjäger bedurfte. Doch wie sollte Arbor alles Wissen, das er in den letzten fünfzehn Jahren erworben hatte, in nur einer Nacht in Asks Kopf hineinbekommen? Und von dort aus in Asks Hände und Arme, seine Beine und Augen? Ein Bärenjäger wurde man nicht über Nacht. Schon gar nicht, wenn man bisher nur mit Kinderpfeilen auf Vögel und Kaninchen geschossen hatte.

„Wenn du ihm doch mit dem Messer begegnen solltest ...“ Arbor sah ihn besorgt an. Doch dann ruckte sein Kopf energisch hoch, eine Bewegung, mit der er sich selbst und dem Jungen Mut machen wollte. „Du darfst keine Angst haben. Für jeden ist es irgendwann das erste Mal. Aber egal, was auch passiert: Du darfst niemals weglaufen, niemals, hörst du? Der Braune ist schneller als jeder Mensch, er würde dich schon nach wenigen Sprüngen eingeholt haben. Also, nicht weglaufen, Ask. Und halte dich auf seiner linken Seite, wenn immer es möglich ist. Der Höhlenbär ist Linkshänder, es ist also etwas ungefährlicher, ihn von dieser Seite aus anzugehen, da er mit der Tatze dann nicht weit genug ausholen kann.“ Arbor lächelte ihn mit freundlicher Verzweiflung an. „Auch wenn es bei einem Bären eigentlich keine ungefährlichen Seiten gibt.“

Ask hatte es geahnt. Er umklammerte seinen Brustbeutel, in dem der schwarze Stein ruhte. Ob die Götternase ihm auf der Jagd beistehen würde? Im Interesse der schwarzen Dämonen lag es ja, schließlich ging es um ihr Opfer, um ihre Wiedergutmachung für die Verletzung ihrer Klippe. Oder würden die schwarzen Götter ihn erbarmungslos ins Verderben stürzen lassen und dann seine Seele für immer in der Steinwand gefangen halten? Wer wußte schon, wie es die fremden Götter des Nachbarvolks mit den Menschen hielten?

„Ask, hörst du mir überhaupt zu?“

Ask fuhr schuldbewußt zusammen. Es ging hier nicht um irgendwelche Lehrsätze Yggrs zum Verhalten gegenüber harmlosen Baumgeistern. „Doch, natürlich höre ich zu“, beeilte er sich zu versichern. „Nie weglaufen. Keine Angst haben. Von links zustechen.“

Arbor seufzte. Im Mondschein sah Ask auf die eindrucksvolle Narbe auf der rechten Schulter des Jägers. Arbor hatte ihre Umrisse mit blauem und rotem Beerensaft nachgezeichnet. Mit Bären war nicht zu spaßen.

„Richtig. Niemals weglaufen. Das ist immer die falsche Lösung. Auch wenn der Bär plötzlich vor dir auftaucht und du gar nicht zum Schuß bereit bist und kein Messer bei dir hast. Was tust du dann?“

Ask blickte ihn ratlos an.

„Wenn du wegläufst, holt er dich ein. Wenn du auf einen Baum kletterst, schüttelt er dich herunter. Aber wenn du ganz ruhig mit ihm sprichst, läßt er dich vielleicht leben.“

„Ich soll mit ihm – sprechen?“

Arbor nickte ernst. „Vergiß es nie, daß die Bären und die Jaran-Dem einmal Brüder waren. Der Braune ist nicht wie der Hirsch oder das Wisent, er geht auf zwei Beinen wie wir, er jagt wie wir, und in seiner Seele brennt das Sonnenfeuer wie in den Jaran-Dem. Es ist ein guter Geist, der in dem Braunen wohnt, auch wenn er wild und gefährlich ist. Der Bär ist der einzige Geist, der für einen Menschen gelten kann, Ask. Nur darum kann er bei den Klippendämonen für dich einstehen, vergiß das nie.“

Der Jäger machte eine bedeutungsvolle Pause.

Ein Käuzchen strich über die beiden Waldwohner hinweg.

„Wenn du einen Bären tötest, ist es, als ob du einen Bruder tötest. Und deshalb darfst du ihn niemals angehen, ohne ihm deinen Respekt zu erweisen. Du darfst im Dickicht auf den Hirsch und das Reh lauern, du darfst das Wisent und den Auerochsen beschleichen. Aber den Bären darfst du nie von hinten angreifen. Ihm mußt du dich immer zeigen. Wenn du seinen breiten Rücken vor dir siehst, wenn der Pfeil schon in der Sehne liegt, ganz egal, wie gut deine Schußposition ist, du rufst ihn an: ‚Obacht, Bruder Bär!‘ Und dann schießt du.“ Ein dunkler Schatten glitt über das Gesicht des Jägers. „Allerdings nicht mit diesem Kinderspielzeug.“

Er stand auf und griff nach Asks Bogen, drehte ihn verächtlich in der Hand und warf ihn ins Gebüsch. Er stutzte, als er die Waffe nicht niederfallen hörte. Doch dann trat Tenella aus dem Dunkel hervor. In der Hand hielt sie den Bogen, den sie gefangen hatte.

„Da hast du recht, Arbor. Doch mach mir den Bogen nicht schlecht. Er ist ein gutes Gerät. Für Kinder.“

„Tenella!“ rief Ask froh.

Es war gut, die Schwester noch einmal zu sehen, bevor er aufbrach. Und der Bogen in ihrer Hand, nicht der Kinderbogen in ihrer Rechten, sondern der dunkle, größere in ihrer Linken, hatte etwas Tröstliches. Ask hatte gewußt, daß sie ihn nicht mit dem kleinen Kaninchentöter ziehen lassen würde. Auch wenn er als Vierzehnjähriger noch nicht die Kraft hatte, die schweren Jagdbogen der Erwachsenen zu spannen.

Arbor nickte Tenella zu und trat beiseite. Bei den Jaran-Dem wußte man, wann die Familie allein sein wollte.

„Rowan wird sich freuen über den neuen Kaninchentöter“, lächelte Tenella. Ihr blondes Haar leuchtete im Mondlicht, und wieder ärgerte sich Ask, daß das schönste Mädchen der Waldwohner wohl dem Emblar in seine Hütte folgen würde. Arbor hätte er sie eher gegönnt.

„Arbor ist ein guter Bärenjäger“, sagte er und hatte Mühe, den Kloß im Hals herunterzuschlucken. „Er hat mir alles erzählt, was er über den Braunen weiß.“ „In einer halben Nacht?“ Tenella lächelte flüchtig, wurde jedoch schnell wieder ernst. „Ich bin überzeugt, er hat getan, was er konnte.“

Sie hob den Bogen ins Mondlicht. Ask sog den Atem tief ein. Der Bogen war größer als sein Kinderbogen, doch war das Holz gut zwei Handspannen kürzer als bei den Waffen der Erwachsenen. Das dunkle, polierte Holz schimmerte geheimnisvoll, als Tenella es im Licht drehte.

„Er ist wunderschön“, flüsterte Ask.

„Versuch, ob du ihn spannen kannst.“

Der Aufforderung hätte es kaum bedurft. Ask streckte die Hand aus. Seine Finger schlossen sich um das Holz. Es war, als berührten sie etwas Lebendiges. Als ginge ein warmer Lebenspuls von dem Holz aus. Doch nein, eher so, als rauschte sein eigenes Blut in dem Holz, und als sei der Bogen ein Teil von ihm. Ein gutes Gefühl.

Ask streckte den linken Arm von sich. Dann legte er Zeige- und Mittelfinger der Rechten um die Sehne. Ein Erwachsenengriff. Längst griff er nicht mehr mit Daumen und Zeigefinger nach dem Pfeilschaft, wie es Kinder taten. Er spürte die Sehne in den Fingergelenken liegen. Dann zog er sie langsam durch. Langsam und kraftvoll, jeden Fingerbreit auskostend, bis die Hand sein Gesicht berührte, und noch weiter, bis der Pfeil, wenn er einen eingelegt hätte, an seiner Wange geruht hätte. Ungeheure Kräfte ballten sich in diesem Bogen, bereit zum Losschnellen, bereit, den Pfeil fliegen zu lassen bis zu den Sternen. Ask spürte, wie die Kraft des Bogens ihn durchflutete. Noch niemals war er sich so stark und stolz vorgekommen wie in dieser Nacht, als er den neuen Bogen spannte.

„Twäng!“

Der Laut, mit dem die Sehne zurückschnellte, ließ seine Seele vibrieren. Er sah Tenella an. Die nickte zufrieden.

„Ich wußte, du würdest ihn spannen können. Er ist noch nicht ganz so stark wie ein Erwachsenenbogen, aber seine Durchschlagkraft ist doch recht hoch. Ich habe ihn vor ein paar Monden erprobt. Ein Wisentfell durchdringt er ohne Mühe.“

„Vor ein paar Monden schon?“ Ask runzelte die Stirn. „Wie hast du wissen können ...?“

„Ich wußte es nicht. Es war wohl die Sonnentochter, die mich an dem Tag zu der kleinen Eibe geführt hat. Vielleicht sogar der Waldalte selbst. Ich sah den Baum und wußte: Daraus machst du einen Bogen, etwas kleiner als sonst, aber stark genug, einen Bären zu töten. Einen Bärenbogen für einen kleinen Jäger. Und ich hatte recht. Nun wird er gebraucht.“

Ask wandte die Waffe in den Händen. Makellos glattpoliert, kräftig und doch biegsam, ein zuverlässiger Begleiter auf der Jagd wie alle Waffen, die seine Schwester herstellte. An beiden Enden oberhalb der Sehnenknoten waren zwei Bärentatzen aus dem Holz herausgeschnitzt, Pranken mit gebogenen Krallen. Ein echter Bärenbogen. Er hatte gar nicht gewußt, daß seine Schwester so kunstvoll schnitzen konnte. Gewöhnlich hielt sie nichts davon, einen Bogen mit Schmuckwerk zu verzieren.

„An der Stelle schadet es nicht“, sagte sie, als sie seinen verwunderten Blick bemerkte. „Und wenn der Bogen dem Bärengeist gewidmet ist, wird es wohl eher nützen.“

Der Mond stand bereits weit im Westen. Es wäre Zeit, endlich auseinanderzugehen. Vor allem, da Ask bei Sonnenaufgang aufbrechen sollte. Doch er wollte sich nicht von der Schwester trennen. Noch nicht.

„Erzähl mir noch einmal die Geschichte vom Bilderbogen“, bat er. „Erzähl mir die Geschichte, wie du es früher immer getan hast, als du noch bei uns wohntest.“

Tenella seufzte. „Eine Kindergeschichte und einen Erwachsenenbogen, kleiner Jäger? Also gut. Aber danach wird geschlafen. Du hast einen langen Weg vor dir.“

Sie hockte sich ins Moos, und Ask kuschelte sich eng an seine große Schwester, wie damals, als er noch ein Kind war.

„Das ist schon lange her“, begann Tenella mit träumerischer Stimme, „vor langen Zeiten, vielleicht sogar vor der Zeit, als der Waldalte durch die Bergwälder streifte. Auch damals schon gab es Jäger in diesem Land, auch damals schon gingen sie mit Pfeil und Bogen auf die Jagd und spürten dem Hirsch und dem Reh nach, dem Wildschwein und dem Wisent. Oft war das Wild scheu und wachsam, oft auch ein Bogen schlecht ausgewogen und ein Pfeil mit ungeraden Federn befiedert, und der Jäger blieb erfolglos auf der Pirsch. In Zeiten des Hungers war ein erfolgloser Schuß doppelt bitter, und der Jäger trug mit dem Ärger auch noch den leeren Magen heim.

In jenen Zeiten war es, als ein Mann der Waldwohner einen guten Baum fand und sich aus dem Holz einen Bogen schnitzte. Schon bei der Arbeit spürte er, daß es ein ganz besonderer Bogen sein würde. Und richtig: Als das Holz entrindet und glattpoliert in der Sonne leuchtete, war es eine Freude, ihn anzusehen, und als der Mann die Sehne an die Bogenspitzen knüpfte, sang sie in einem Ton, wie es unter hundert Bogen nur einer oder höchstens zwei tun.

Der Mann hängte eine kleine Scheibe aus trockenem Gras an einen Zweig, die war kaum so groß wie ein Handteller und schwankte und schaukelte im Wind. Er trat dreißig Schritt zurück, nahm seinen besten Pfeil und – twäng! – schoß er die Scheibe mitten entzwei, daß das Gras in alle Richtungen davonstäubte.

‚Du bist ein guter Bogen‘, sprach der Mann bei sich. ‚Nein, das sagt noch nicht genug. Du bist der beste Bogen, den je ein Waldwohner aus Holz geschnitten hat. Darum will ich dich Sonnenstrahlversender nennen. Denn gerade und unfehlbar wie die Strahlen der Sonne versendest du deine Pfeile.‘

Er zeigte den Sonnenstrahlversender allen Menschen seines Stammes, und alle sagten, daß es niemals in Menschenhänden eine solche Waffe gegeben hatte und daß die Waldwohner nie wieder Hunger leiden müßten. Die Nachricht vom unfehlbaren Sonnenstrahlversender sprach sich auch unter den Tieren schnell herum. Allein, was half es ihnen? Was half es dem Hirsch, daß er wußte, daß sein Tod unvermeidlich war, wenn Sonnenstrahlversender längst auf ihn gerichtet war? Was half es dem Wisent, als es wußte, daß jede Flucht vergeblich war, wenn der Pfeil die Sehne bereits verlassen hatte? Und dem Bären nutzte dies alles zu wissen nichts, denn es war schwer, sich vor dem lautlosen Jäger zu hüten, der überall und nirgends aus dem Unterholz auftauchte und Schüsse aus immer größerer Entfernung wagte, die doch nie fehlgingen. Bald kam es, wie es kommen mußte: Der Jäger, der bis dahin nur soviel erbeutet hatte, wie sein Stamm zum Leben brauchte, wurde übermütig. Ein Wisent oder zwei für seine Sippe war ihm nicht mehr genug. Er schoß Kälber, Kühe, Jährlinge, schoß junge Stiere und alte zähe Bullen gleichermaßen. Er schoß den Hirsch und das Reh, er schoß das Kitz an den Zitzen der Ricke. Er schoß kleine Vögel aus den Zweigen, nur um seine Geschicklichkeit zu zeigen. Er schoß auf vierzig Schritt Entfernung auf Mäuse, um damit zu prahlen. ‚Ich werde alle Tiere des Waldes töten‘, rühmte er sich. ‚Denn mein Begleiter, der Sonnenstrahlversender, ist bei mir, und alles Wild ist in meine Hand gegeben.‘

Eines Abend, der Jäger saß gerade am Lagerfeuer und schnitzte neue Pfeile, da räusperte sich jemand in seiner Nähe. Und als er überrascht aufsah, da kam Pex, der Rotfuchs, aus dem Unterholz geschnürt. Der Rote glitt elegant über die Lichtung, immer einen Fuß in den Abdruck des vorigen Fußes setzend, und mit dem buschigen Schwanz, den er hinter sich über den Boden schleifen ließ, wischte er die schmale Spur sofort wieder aus. Heimlich und leise, wie es die Art der Füchse ist, strich Pex heran, und doch wieder nicht heimlich, denn er hatte den Jäger ja durch ein Räuspern auf sich aufmerksam gemacht. Er kam geradewegs auf das Feuer zu und trug den Kopf hoch. Der Jäger hatte längst zu Sonnenstrahlversender gegriffen, der Pfeil lag bereits in der Sehne, doch zögerte er, den Roten abzuschießen, der so offen und furchtlos dahergeschritten kam.

‚Was willst du?‘ blaffte er den Fuchs an.

Der glitt geschmeidig noch ein ganzes Stück näher, bis er kaum einen Schritt von dem Jäger entfernt war, setzte sich dann auf die Hinterpfoten, putzte mit den Vorderpfoten das Näschen und blinzelte gleichmütig über das im Feuerschein glänzende Holz des Bogens hin.

‚Also das soll er sein, der sagenhafte Sonnenstrahlversender‘, meinte er mit einer wegwerfenden Pfotenbewegung. Dabei stieß er den Atem durch die Nase aus, daß der Jäger den warmen Luftzug spürte. ‚Das ist ja nur ein ganz gewöhnliches Stück Holz. Ich hatte mir wahrlich etwas Größeres und Schmuckvolleres vorgestellt nach allem, was die Tiere mir von dem Wunderding erzählt haben.‘

‚Wie meinst du das?‘ knurrte der Jäger ärgerlich.

‚Nun‘, raunte der Rote listig, ‚er sieht aus wie jeder andere Bogen auch. Du scheinst nicht viel von der Waffe zu halten, Jäger. Sonst hättest du doch ein Sonnensymbol hineingeritzt, oder wenigstens dein Namenszeichen. Aber so ist’s ja nur ein billiges Gelump, ein Dreck mit einer Sehne daran, wie’s viele durch den Wald tragen. Nun, nichts für ungut, Bruder Mensch, mich geht’s freilich nichts an. Einen schönen Abend noch.‘

Und damit war er im Gebüsch verschwunden, ehe noch der Jäger ihm eine Verwünschung hinterherschleudern konnte. Lange saß er in dieser Nacht beim Feuer. Aber er schnitzte keine Pfeile mehr. Zu tief waren die kleinen Pfeilspitzen unter der moosweichen Pexenstimme in sein Herz gedrungen und entfalteten dort nach und nach ihr Gift.

Am nächsten Morgen war der Jäger schon früh wach. Als die ersten Sonnenstrahlen die Lichtung erhellten, sahen die Vögel ihn im Laub hocken und seinen Bogen betrachten. ‚Du bist der beste Bogen unter der Sonne, mein Sonnenstrahlversender‘, sprach er. ‚Und damit jeder sieht, daß du etwas ganz besonderes bist (und nicht einfach nur ein eben vom Baum gepflückter Holzdreck mit Sehne dran, wie der Pex meint), darum will ich dich schmücken, wie es einem Sonnenkinde zukommt.‘

Er nahm sein gutes Schnitzmesser zur Hand und grub ins Holz die runde Sonnenscheibe ein, eine große Jägerin mit goldenen Pfeilen schnitzte er, die niemals fehlgingen. Ja, das war ein Schmuck, einem Meisterbogen angemessen. Das Herz lachte ihm im Leibe, als er die geraden, hellen Sonnenpfeile über das dunkle Holz fliegen sah. Oh, er war kein einfacher Jäger, er war auch ein Künstler und ein Meister seines Faches. Und dieser Bogen, ja, er verdiente die Auszeichnung. Und mehr als das.

Er schnitzte Hirsche mit weitausladenden Geweihen unter die Sonne und krummhornige Wisente, die ihre mächtigen Schädel im Kampf aneinander krachen ließen. Er schnitzte zottige Wölfe und Wildpferde mit stämmigen Beinen, und allen Tieren drangen die strahlenden Pfeile unfehlbar ins Herz. Einen Schwarm auffliegender Enten kerbte er ins Holz, ganz lebendig, als würden sie eben erschreckt von einer stillen Wasserfläche aufflattern. Wilde Bären mit zum Schlag erhobenen Tatzen schnitzte er, so lebensecht, man konnte in ihrem Pelz jedes Haar zählen. Eine Rotte Wildschweine brach sich durchs Unterholz Bahn, ein Sprung Rehe preschte dahin, und im Flußlauf zwischen den alten Eichen sprangen Forellen, nach denen die Sonnenstrahlen schossen. Hier hob ein Auerochse drohend die Hörner und brüllte – und konnte dem Jäger doch nicht entkommen. Da stürzte ein Adler getroffen vom Himmel herab. Und dazwischen all überall huschte und kroch und kletterte das kleine Getier, die Maus und das Eichhörnchen, der Otter und die Laubviper.

‚Nun bist du wahrhaft mein Meisterbogen!‘ rief der Jäger aus, als er am Abend des dritten Tags das über und über mit Schnitzereien verzierte Holz in den Händen drehte. ‚Nun sieht jeder auf den ersten Blick, daß du der unfehlbare Sonnenstrahlversender bist, und ich bin dein Meister.‘

Da hörte er hinter sich ein dumpfes Grollen und schwere Tritte. Zweige und Äste brachen, schnaufend schob sich der Braune, der alte Höhlenbär durch das Gehölz. Rasch flog der Pfeil an die Sehne. Der Jäger spannte den Bogen – da brach das Holz in zwei Teile, und dies war alles, was man Tage später noch von dem Jäger fand.“

Tenella hatte geendet. Schwer lehnte Ask an ihrer Schulter, den Kopf vornübergeneigt. „Lieber doch kein Bilderbogen“, murmelte er in sich hinein. Dann war er eingeschlafen. Tenella aber wachte die ganze Nacht hindurch an seiner Seite, wie man es für Kinder tut. Es war das letzte Mal, daß jemand Asks Schlaf behütete.






© Petra Hartmann