Furunkula Warzenkraish
In einem gewaltigen, steinernen Zauberschloß, tief versteckt im Wald auf der anderen Seite der Berge, da lebte einmal eine uralte, schreckliche Hexe. Furunkula Warzenkraish, so hieß diese Frau, war in jungen Jahren eine besonders hübsche und reizende Person gewesen, und viele Prinzen und Fürsten hatten ihr zu Füßen gelegen und hatten ihr den Hof gemacht. Doch als im Alter die Warzen auf ihrer Nase wuchsen, als die Falten sich tief wie Ackerfurchen in ihr braunes Gesicht gruben und als sich auf ihrem krummen Rücken ein Buckel wölbte, der nur noch der schwarzen Katze gefiel, da wollten die Prinzen und Fürsten von Furunkula Warzenkraish nichts mehr wissen. Und als sie alle Prinzen und Fürsten in Frösche verzaubert und alle Prinzessinnen des Landes in Kanarienvögel verhext hatte, nun, da konnten die Prinzen und Fürsten von ihr auch gar nichts mehr wissen.
Die Jahre gingen ins Land, und die Büsche und Bäume und Brombeerhecken wuchsen höher und höher um das Schloß von Furunkula, die Wege wucherten zu, und man vergaß die Hexe, die im Wald jenseits der Berge hauste. Und nur manchmal, in kalten Winternächten am Kaminfeuer, warnte ein Märchenerzähler die Kinder vor dem dunklen Wald, und die alten Frauen flüsterten, es sei dort nicht geheuer. So hatte die alte Hexe viele Jahre einsam auf ihrem Schloß verbracht, ohne daß sie jemals einen Menschen zu Gesicht bekommen hatte. Doch eines Tages, völlig überraschend und ohne daß sich ein Besucher bei ihr angemeldet hätte, hörte sie plötzlich ein Geräusch am Schloßtor. Dort unten sang jemand. Und dies waren seine Worte:
»Ein Sänger ist der Götter Bote.
Beim Klang der Harfen und Schalmein
dringt tief ins Herz dir seine Note,
drum laß ihn durch das Schloßtor ein.
Ich spiel des Abends auf am Throne,
erzähl des Tags dem Volk im Stroh,
sing morgens dem Piratensohne,
mach nachts die Königstochter froh.
Auf Märkten darf mein Lied erklingen.
Die Stadt jauchzt selig, wenn ich komm.
Und wollt’ ich gar im Tempel singen,
ich machte selbst den Priester fromm.
Kein Held, auch wenn die Tat gelinget,
erlangt das wahre Heldentum,
wenn ihn der Barde nicht besinget
und kündet seinen Heldenruhm.
Kein schönes Kind auf grünen Wiesen
wird als ein solches je erkannt,
bis sie der Dichter nicht gepriesen
und sang von ihr im ganzen Land.
Ob ich auf höchste Berge klimme,
ob ich durch tiefste Meere schwimme,
ich werde stets willkommen sein:
Der Sänger ist der Götter Stimme,
drum laß ihn durch das Schloßtor ein.
Der Mann, der da vor dem Schloßtor mit mageren Fingern die Saiten seiner Laute kniff, sah nicht unbedingt aus wie ein Götterbote. Sein buntgeflickter Kittel mochte wohl schon bessere Tage gesehen haben. Der Sänger war hager und dürr, roch auf eine besonders penetrante Art nach Kuhmist, und seine Haare waren zerzaust und verfilzt und starrten vor Schmutz. Gleichwohl hatte das Lied einen tiefen Eindruck auf die Hexe gemacht, und sie ließ die Zugbrücke herab und bat den fahrenden Sänger an ihre Tafel. Der Mann trat in den großen Saal, in dem Furunkula auf ihrem Drachenthron saß, und er war ebenfalls gewaltig beeindruckt. Er war überzeugt, am Hofe der reichsten und mächtigsten Königin der Welt zu Gast zu sein. Und da er die vornehme Dame von sich einnehmen wollte, sang er von seinen Reisen durch aller Herren Länder, erzählte von den gelben Menschen im Osten und den roten im Westen, vom Süden, wo die Leute von der Sonne ganz schwarz gebrannt waren, und vom Norden, wo die Sonne fast gar keine Kraft hatte und die Menschen und Eisbären sich zum Schutz gegen die Kälte in dicke, weiße Felle hüllen. »Und sie alle haben mich auf meinen Reisen umschwärmt und bejubelt«, schloß der Mann seine Erzählungen. »Denn den Sänger liebt jedes Volk der Welt, und jeder Mensch freut sich, wenn er zu Gast kommt.«
Da seufzte Furunkula leise, denn über ihre Ankunft hatte sich noch nie ein Mensch gefreut. Und daß man ihr jubelnd entgegenzog, wenn sie in eine Stadt kam, und sie gar auf Händen zum Stadttor hereintrug, nein, das hatte die alte Hexe noch niemals erlebt.
»Gnädigste seufzen ganz entzückend«, schmeichelte der Sänger, der es auf seinen Reisen gelernt hatte, sich beliebt zu machen. »Wahrhaftig, selbst ich, der ich weit herumgekommen bin, habe noch nie einen Menschen getroffen, der eine so bezaubernde Stimme sein eigen nannte ...«
Als der Spielmann am Morgen darauf das Schloß wieder verließ, klimperten in seiner Tasche fünf goldene Taler. Die Hexe war sehr zufrieden mit ihrem Besucher, denn er hatte ihr über vieles die Augen geöffnet.
Gleich als der fahrende Sänger das Schloß verlassen hatte, stieg Furunkula hinauf auf den Dachboden. Generationen von Hexen hatten hier ihren Plunder und ihr Gerümpel aufbewahrt. Ausgestopfte Krokodile fand sie hier und tote Katzen, kaputte Sofas, deren Polster zerschlissen waren, und alte, blinde Zauberspiegel, die schon seit Jahrhunderten kein Gesicht mehr gespiegelt hatten. Und dort oben, unter Staub und Spinnweben vergraben, entdeckte die Hexe die uralte Ebenholztruhe ihrer Urgroßmutter. Mit einem geheimen Zauberspruch voller schwarzer Magie drehte sie den goldenen Schlüssel im Schloß, und als der Deckel, von unsichtbaren Geisterhänden bewegt, aufschwang, da lag in den Tiefen der Truhe die uralte verwunschene Teufelsgeige ihrer Ahnherrin.
»Fidel mein, Fidel klein,
spiel mir jetzt ein Liedel fein«,
flüsterte Furunkula.
Da fing es von den Saiten der Geige an zu krächzen und zu quietschen, daß das ganze Schloß erschüttert wurde. Drei Ziegel lösten sich vom Schlossdach und fuhren mit ohrenbetäubendem Lärm zu Boden. Der Katze sträubten sich vor Todesangst die Haare, das Tier machte einen Buckel und fauchte und schoß dann in wilder Panik davon. Draußen aber braute sich ein Sturm zusammen. Furchtbare, schwarze Gewitterwolken ballten sich über dem Schloß, und ein Blitzstrahl schlug laut zischend in den Blitzableiter ein. Da klatschte Furunkula vor Freude in die Hände. »Was für eine herrliche Musik!« jubelte sie. »Die Menschen werden begeistert sein, wenn ich für sie spiele.«
Den anderen Morgen machte sich die Hexe Furunkula schon sehr früh auf den Weg. Sie schloß das Schloßtor gut ab und wanderte hinüber zur Stadt Akkatossa, die sie gegen Mittag erreichte. In der Stadt angekommen, marschierte sie schnurstracks zum Marktplatz, setzte ihre Teufelsgeige ans Kinn und flüsterte leise:
»Fidel mein, Fidel klein,
spiel mir jetzt ein Liedel fein.«
Sofort erklang ein Mark und Bein zerreißendes Quietschen, daß alle Männer und Frauen sich entsetzt die Ohren zuhielten. Furunkula Warzenkraish aber schloß entzückt die Augen und begann zu singen:
»Ihr lieben Leut’, ich bin bekannt
als beste Sängerin im Land
und trag mein schönstes Lied euch vor,
drum hört gut zu, macht auf das Ohr.«
»Aufhören, aufhören!« schrie da die Menge. Und ein dicker Gemüsehändler warf mit einer überreifen Tomate nach ihr. Bald flogen faules Obst und Gemüse ohne Unterlaß auf die Hexe, und Buhrufe gellten ihr in die Ohren.
»Wie?« schrie sie zornig. »Ihr wollt meinen lieblichen Gesang nicht hören?« Und voller Wut rief sie mit einem furchtbaren Zauberspruch das Meer herbei. Eine gewaltige Flutwelle sprang über den Marktplatz und warf alle Buden und Stände der Händler um. Es dauerte Stunden, bis sie alles wieder aufgesammelt und sortiert hatten, und das Salzwasser hatte ihnen die meisten Früchte verdorben. Furunkula aber griff sich einen Besen, der in der Ecke des Marktplatzes stand, schwang sich hoch in die Lüfte und flog weiter, bis sie in die große Hafenstadt Ura kam.
»Vielleicht habe ich es nur falsch angefangen«, dachte Furunkula bei sich selbst, als sie in Ura gelandet war. »Es war ein Fehler, vor dem ungebildeten Volk auf dem Markt aufzutreten.« Sie marschierte also schnurstracks zum Stadttheater und mietete die Bühne für den späten Nachmittag. Dann ging sie zur Druckerei und ließ einhundert große, bunte Plakate anfertigen, die verkündeten, daß die berühmte Künstlerin Furunkula Warzenkraish heute eine Galavorstellung geben wollte. Überall in der Stadt hängte sie diese Transparente auf. Außerdem verteilte sie Freikarten an den Bürgermeister, an die Mitglieder des Stadtrats und alle anderen wichtigen Leute.
Und tatsächlich: Als Furunkula auf der Bühne des Stadttheaters von Ura trat, da war der Zuschauerraum bis zum Bersten gefüllt mit Musikliebhabern und Kunstfreunden und vielen, vielen Neugierigen. »Oh wie schön«, freute sich die Hexe. Dann setzte sie sich die Geige ans Kinn und flüsterte:
»Fidel mein, Fidel klein,
spiel mir jetzt ein Liedel fein.«
Ohrenbetäubendes Kreischen erhob sich, als würde jemand eine Katze quälen. Furunkula blickte aus strahlenden Augen ins Publikum und sang:
»Ihr lieben Leut’ von nah und fern,
ich singe schön, ich singe gern,
ich sing’ euch heut’ mein schönstes Lied,
drum hört fein zu und dann singt mit.«
»Entsetzlich!« rief da eine bleiche, vornehme Dame aus und sank in Ohnmacht. »Das ist ja scheußlich!« schimpften die Ratsherren, und der Bürgermeister stand auf und brüllte: »So hören Sie doch endlich mit diesem furchtbaren Lärm auf, das ist ja nicht zum Aushalten!«
Plötzlich hatten alle Zuhörer faule Eier in der Hand, und mit wütenden Beschimpfungen warfen sie damit nach der armen Furunkula. Die stand wie erstarrt auf der Bühne und wußte gar nicht, wie ihr geschah, als ihr die Eier um die Ohren fl ogen. Doch dann erfaßte sie ein rasender Hexenzorn, und sie schrie ihren bösesten, schwärzesten Zauberspruch ins Publikum. Dunkler Rauch quoll durch den Zuschauerraum, Donner rollte über die Bänke, und grelle Blitze zuckten von der Bühne aus durch das ganze Theater.
Es dauerte lange, bis der Rauch sich wieder erhob. Bürgermeister, Ratsherren und Kunstfreunde starrten sich entsetzt an: Sie alle trugen rechts und links am Kopf lange, graue Eselsohren. Furunkula aber hatte sich still durch den Künstlerausgang davongestohlen und schlich, leise vor sich hinweinend, zum Fluß hinunter.
Als die Hexe mit einem kleinen Flußkahn nach Dichtaby übersetzte, verbreitete sich helle Aufregung in der Stadt. Man hatte inzwischen von schweren Gehörschäden und Nervenzusammenbrüchen aus Akkatossa gehört. Und auch, daß die Dame, die bei Furunkulas Konzert in Ura zusammengebrochen war, noch immer in tiefer Ohnmacht lag. Am liebsten hätte der Bürgermeister der Hexe verboten, in Dichtaby aufzutreten. Aber die Ratsherren schüttelten ängstlich die Köpfe, denn sie fürchteten sich davor, daß Furunkula auch ihnen Eselsohren anhexte. Und die Kaufleute hoben abwehrend die Hände und spreizten alle zehn Finger, denn sie hatten Angst, daß die Hexe den Marktplatz unter Wasser setzen würde. Schon packten viele der reichen Bürger ihre Reisetruhen, und während Furunkula in ihrem Kahn der Stadt näher und näher trieb, ließen sie ihr Hab und Gut in den Hafen schaffen, um Dichtaby zu verlassen.
Nur ein kleiner Junge, der den Aufruhr beobachtete, ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Er pfiff ein leises Liedchen durch seine Zahnlücken, schob dann die Hände in die Hosentaschen und schlenderte gemächlich zum Hafen hinunter. Als Furunkulas Kahn anlandete, fing er geschickt die Leine auf, die sie ihm zuwarf, und vertäute das Boot längsseits am Liegeplatz der Staatsgäste.
»Bist du Furunkula Warzenkraish, die berühmte Sängerin?« fragte er, als er der Hexe den Arm reichte und ihr an Land half. Und als sie nickte, bat er sie um ein Autogramm. Eifrig schmierte sie ihren Namen auf einen Zettel und gab ihn dem Jungen.
»Es scheint, hier in Dichtaby weiß man, eine gute Sängerin zu schätzen«, sagte sie.
»Ach«, meinte da der Junge, und er seufzte sehr tief, »ach, die Sänger in Dichtaby sind alle schrecklich eitel und denken nur an ihren Profit. Kannst du dir vorstellen, daß keiner von diesen sogenannten Künstlern bereit ist, ein Konzert in unserer Gehörlosen-Schule zu geben? Selbst Dore Mifaso und Papa Geno, unsere schlechtesten Straßensänger, sind sich zu schade, dort aufzutreten. Die Kinder in der Schule sind alle furchtbar traurig.«
»Das ist ja unerhört!« empörte sich Furunkula. Und beim Gedanken an die armen Kinder, die nun kein Konzert erleben sollten, kullerte ihr eine Träne die Wange herab. »Bring mich in diese Schule, und lade alle Schüler ein«, verlangte sie. »Sag ihnen, die berühmte Furunkula Warzenkraish gibt heute eine Sondervorstellung für alle tauben Kinder.«
Die Nachricht vom großen Konzert in der Gehörlosen-Schule sprach sich in Windeseile herum. Die Kinder strömten so schnell in die Aula, daß Furunkula vor lauter Aufregung fast die Luft wegblieb. Mit großen, staunenden Augen beobachteten die Jungen und Mädchen die fremde Frau, die auf die Bühne trat und mit dem Bogen über die Saiten ihrer Geige strich. Der Boden der Schule begann leicht zu vibrieren, und im Magen der Kinder stieg ein eigenartiges Kitzeln auf. Dann schloß die Hexe die Augen, und nach einer geheimen Melodie, die nur sie selbst hören konnte, begann sie, sich im Tanz zu wiegen. Begeistert stampften die Kinder den Rhythmus ihrer Bewegungen mit, ganz vorne in der ersten Reihe hatten sich bereits einige untergehakt und schaukelten fröhlich von rechts nach links und von links nach rechts, und ganz hinten, wo es am dunkelsten war, knisterten schon die ersten Wunderkerzen.
Furunkula aber sang und tanzte, wie sie es noch nie in ihrem Leben getan hatte, und als sie sich nach zwei Stunden unter donnerndem Beifall ihrer Fans verabschiedete, war sie glücklich, wie es noch nie eine Hexe vor ihr gewesen war. An diesem Abend beschloß sie, nur noch für Gehörlose zu singen. Und diesem Vorsatz ist sie bis heute treu geblieben.
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