Hier mein Erfahrungsbericht, der am 20. Mai im "Tempest" erschien:

ERFAHRUNGSBERICHT:
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(redaktion@team.autorenforum.de)

"Feenfleiß und Drachenschweiß:
Die Entstehung eines Märchenbuchs"
von Petra Hartmann

"Gib bloß nicht so an - du hast ja nicht mal was geschrieben darin", mault meine Mutter. Es ist zwei Tage vor Weihnachten, das Märchenbuch "Drachenstarker Feenzauber" ist nach weniger als einem Monat auf dem Markt bereits vergriffen, die Zweitauflage ist geplant, und meine Fa- milie musste sich schon hundertmal anhören, ich hätte einen "Bestsel- ler" gemacht. Kein Wunder, dass meine Mutter genervt ist. Aber was genau habe ich eigentlich getan? Und auf was muss man sich einstellen, wenn man den Herausgeberjob annimmt?

Ich gebe zu, etwas einfacher hatte ich es mir vorgestellt. Fast ein Jahr Arbeit steckt in den 200 Seiten, die Stunden habe ich nicht gezählt, die Albträume von druckfehlerverstreuenden Nachtelfen über meiner Festplatte ebenfalls nicht.

Die Märchen-Anthologien im Wurdack-Verlag haben eine gewisse Tradi- tion. Bisher war ich in jeder vertreten. Freundliche Idealisten und ein engagierter Kleinverleger haben sich mit meinen Texten herumgesch- lagen. Es ist Zeit, etwas zurückzugeben, dachte ich und meldete mich freiwillig ...


Der Zeitplan

Ich begann mit einem Zeitplan. Vom Verkaufen verstehe ich zwar nichts, aber dass es so etwas wie ein "Weihnachtsgeschäft" gibt, hatte ich schon mitbekommen. Damit stand fest, dass das Buch spätestens Anfang Dezember, besser noch im November erscheinen sollte. Mein Urlaub und die letzten Arbeiten an meinem Buch "Ein Prinz für Movenna" waren dafür verantwortlich, dass die Ausschreibung erst Anfang Februar starten konnte. Das Zeitfenster war also knapp bemessen.

Eigentlich hatte ich von einem Kinderbuch wie "Immer diese Kobolde!" geträumt, der Anthologie des Vorjahres mit herrlichen Illustrationen von Matthias Herkle. Doch der winkte ab: In einem so kurzen Zeitraum zu jedem Märchen ein Bild erstellen - bist du bei Trost? Die Herausge- berin lernte: Auch Zeichner haben nur zwei Hände. Also entschieden wir uns für "Märchen für Erwachsene" (für Erwachsene = ohne Bilder), und ich strich den Buchtitel "Bärenstarke Gute-Nacht-Geschichten" von me- inem Wunschzettel.

Die Ausschreibung ging am 11. Februar 2007 im Forum der Storyolympiade online und wurde kurz danach in diversen Foren, Portalen und Zeitschriften veröffentlicht. Jetzt gab es kein Zurück mehr.


Ausschreibung - und Wirklichkeit

"Gesucht werden Märchen für Erwachsene", stand im Aufruf. "Umfang: max. 7.000 Zeichen." Ich hatte heftig mit dem Kopf geschüttelt, als Verleger Ernst Wurdack vorschlug, die Ausschreibung nur für Stam- mautoren anzubieten. Schließlich hatte ich selbst als unbekannte Jun- gautorin mein Debüt in solchen offenen Anthologien.

Die Ausschreibung steht gerade mal eine Stunde im Netz, als der erste Beitrag eintrudelt. "Ich weiß nicht, ob das ein Märchen ist, aber vielleicht kannst du es gebrauchen", schreibt der Autor. Nein, das ist kein Märchen, das ist eine Parabel. Aber danke fürs Mitspielen.

Am zweiten Tag mailt mir ein junger Mann, der vermutlich gerade in einem Karriereseminar forsches Auftreten gelernt hat: "Ihre Auss- chreibung habe ich mit großem Interesse gelesen. Die Zeichenzahl scheint mir jedoch etwas zu knapp berechnet. Für die Geschichte, die mir vorschwebt, benötige ich etwa 25.000 Zeichen ..." Ist ja nicht mein Problem. "In Ihre Ausschreibung hat sich vermutlich ein Druck- fehler eingeschlichen", formuliert es ein Dritter diplomatischer. "Ich vermute, es muss heißen: 7.000 Wörter."

Ein Vierter schickt vier Märchen, obwohl nur zwei pro Teilnehmer er- laubt sind. Der Fünfte bringt meinen altersschwachen Computer glatt zum Absturz durch ein wunderschönes, hochaufgelöstes 3-MB-Bild im An- hang. "Du wolltest ja nicht hören", feixt Ernst. Die Herausgeberin lernt: Wer eine Ausschreibung macht, ist Freiwild für Anthologie- Nomaden, Selbstdarsteller und verkannte Genies.

Ab Ende Februar gehen pro Woche etwa zehn Märchen und 300 Spam-Mails bei mir ein. Manche Autoren scheinen das "für Erwachsene" als "suche Pornos" missverstanden zu haben. Ein paar ziemlich brutale Hor- rorgeschichten sind dabei. Und erschütternd viel Fantasy. Ich liebe Fantasy. Aber nicht in Märchenbüchern.

An mir selbst beobachtete ich eine seltsame Wandlung: Mein Leben lang hatte ich "Äußerlichkeiten" verachtet. Doch jetzt sehe ich es einem Manuskript schon auf den ersten Blick an, ob es etwas taugt oder nicht. Bunte Blasenbuchstaben, exotische Formatierungen oder ein- zeilige 7-Punkt-Texte machen mich geradezu aggressiv. Mein Gott, was bin ich spießig geworden! "Das ist völlig normal", verrät mir Viktor Christen, Vater einer Schulfreundin und ehemaliger Verlagsleiter bei Gerstenberg, dem ich mein Herz ausschütte. "So geht es allen."

Trotzdem: Ich lese alles. Bei mir soll jeder seine Chance haben. Auch mit zentrierten Riesenbuchstaben. Jeder erhält eine Eingangsbestäti- gung. Und ich schreibe erstmal dreist, dass "voraussichtlich Ende Mai" das Ergebnis feststeht.


Die Auswahl

Berufsbedingt kann ich nur samstags am Märchenbuch arbeiten. Ich notiere beim Lesen auf jedem Ausdruck ein J (ja), N (nein) oder V (vielleicht). Aber die Kategorien verschwimmen schnell. In den ersten Wochen ersticke ich in grottigen Texten und bekomme Panik, dass ich die Anthologie gar nicht voll kriege. Da wird aus manchem V dann doch ein "V+". Doch ab der zweiten oder dritten Woche trudeln so viele gute Texte ein, dass ich selbst aus ursprünglichen Js ein N machen muss. Am Ende der Ausschreibungsfrist weiß ich gar nichts mehr. Um zu einer wirklich fairen Auswahl zu kommen, muss ich noch einmal ganz von vorn anfangen und jedes der über 170 Märchen neu lesen. Nun gut, es sind ja nur 740 Normseiten mit 961.509 Zeichen.

Worüber ich mir als notorische Leseratte gar keine Gedanken gemacht hatte: Einen 800 Seiten starken Roman lese ich locker an einem Tag weg. (Für Hohlbeins "Unterland" mit 788 Seiten habe ich acht Stunden gebraucht. Ich habe auf die Uhr geschaut, weil der Aufkleber des Ver- lags "20 Stunden Spannung garantiert" versprach.) Aber 740 Seiten Mär- chen, bei denen man sich nach spätestens vier Seiten jedesmal auf eine völlig neue Welt und einen völlig anderen Schreibstil einstellen muss, sind gar nicht "am Stück" durchzustehen. Nach spätestens drei Texten fordert das Gehirn eine Pause, nach acht schaltet sich das Lesezentrum vorübergehend aus wie der Überhitzungsschutz eines Bügeleisens. Das mit dem Ergebnis "Ende Mai" war wohl etwas großspurig.

Fünf Verfasser disqualifiziere ich wegen Überlänge (Spitzenreiter: über 20.000 Zeichen). Zwei fliegen raus, weil ihre Texte schon in an- deren Anthologien erschienen sind (wiedererkannt, weil ich in beiden Büchern selbst vertreten bin). Pornos, Polit-Satiren, Parodien und Parabeln werden aussortiert.

Im Mai habe ich einige Lesungen, Cons und Autorentreffs auf dem Ter- minplan. Es ist ein unangenehmes Gefühl, wenn einen langjährige Autorenfreunde nach der Anthologie fragen. Ich erzähle, ich hätte noch sehr viel Arbeit zu erledigen. Die unausgesprochene Frage, die mir aus allen Augen entgegen leuchtet - "Hast du mein Märchen mit ausgewählt?" -, beantworte ich nicht. Freundschaft ist Freundschaft, und Literatur ist Literatur, sage ich mir. Und trotzdem, jeder Herausgeber tut gut daran, sich selbst die unangenehme Frage zu stellen: "Was mache ich bloß, wenn ausgerechnet der Text von XY Mist ist?"

Am 4. Juni ist es so weit. Ich melde Ernst Wurdack 51 Autoren und Mär- chentitel, die im Forum der Storyolympiade und auf der Verlagshomepage veröffentlicht werden. Die Autoren maile ich zusätzlich persönlich an, gratuliere und erzähle schon ein wenig über den weiteren Fahrplan bis zur Veröffentlichung.


Die Arbeit am Text

Dann beginnt die Textarbeit. Die 51 Märchen sind großartig, an vielen muss ich gar nicht viel tun. Dennoch gibt es einige Ecken und Kanten. An einer Stelle wechselt eine Person plötzlich den Vornamen. Einmal streiche ich eine Nebenhandlung, die gar nicht ins Märchen hinein- passt. Ein paar Anakoluthe werden getilgt (ein schöner Ausdruck für den Umstand, dass die zweite Satzhälfte irgendwie nicht zur ersten passt), ein paar Metaphern auf Kurs gebracht, allzu Geschraubtes vere- infacht. Ich bemühe mich, extrem sensibel mit den Texten umzugehen. Nach und nach erhält jeder Autor seine Geschichte mit blauen Anmerkun- gen versehen zurück und wird gebeten, den Text "abzusegnen" beziehung- sweise sich über die markierten Stellen noch einmal Gedanken zu ma- chen.

Für das Korrekturlesen - meine große Schwachstelle - hat sich Judith Ott freiwillig gemeldet. Ich bin schockiert und begeistert, was sie noch alles findet. Von ihr lerne ich auch, dass man etwas nicht "aus den Augenwinkeln" beobachten kann, sondern allenfalls "aus dem Augen- winkel" - man müsste anderenfalls furchtbar schielen. Am 3. September können wir Ernst das Werk übergeben. Die Satzarbeiten sind nicht mehr mein Bier, ich lehne mich zurück und gönne mir eine eiskalte Cola.


Cover und Titel

Im Forum ist inzwischen eine heftige Diskussion um das Cover ent- flammt. Matthias Herkle hat eine hinreißend süße Elfe entworfen. In der ersten Version war sie nackt, da intervenierte der Verleger. Jetzt trägt sie ein Robin-Hood-Kostüm. Einige finden den rosa Umschlag kitschig, andere den Drachen im Hintergrund zu dackelartig. Der Drache verschwindet, die Farbe bleibt. Kitschig darf ein Märchenbuch ja aussehen.

Die Titelsuche ... ein Kapitel für sich. Wie kann man das niedliche "Sockenmonster" und die grausame "Madere Hal" zusammenfassen? Wie den komischen Kampf um den "Goldzahn des Trolls" verbinden mit der an- rührenden Geschichte um den im Koma liegenden "Don Rose", der verfügt hat, dass seine Organe entnommen werden sollen? Was eigentlich die Stärke und den Zauber der Anthologie ausmachen sollte, nämlich die Vielschichtigkeit, die die gesamte Bandbreite der Märchenerzählkunst abbildet, treibt mich nun zur Verzweiflung. Als ich mich bei der Mit- teilung im Forum auch noch vertippe und "Drachenstarke Feenmärchen" ankündige, ist die Verwirrung komplett. Viele Autoren schütteln den Kopf: "Ich habe gar kein Feenmärchen geschrieben." Einige Freunde warnen, der Titel klinge zu sehr nach Kinderbuch.

Einen positiven Nebeneffekt hat die Diskussion um die Feen auf jeden Fall: Normalerweise schwitze ich beim Entwerfen von Klappentexten Was- ser und Blut - aber jetzt kann ich mich aus meiner Aufzählung im Forum bedienen, in der ich erklärte, wie viel Feenzauber im Buch steckt. Erweitert um eine kurze Statistik lautet der vollständige Text auf der Buchrückseite:

"Öko-Feen, Büro-Feen, Todes-Feen und Bahn-Feen, geschäftstüchtige Dra- chen, goldzahnige Trolle, Sockenmonster, verzauberte Kühlschränke, Bierhexen, Zwirrrrle, Familienschutzengel, Lügenschmiede, ehrliche Anwälte, verarmte Zahnärzte und andere Märchenwesen geben sich in die- sem Buch ein Stelldichein. 51 Märchenerzähler im Alter von zwölf bis 76 Jahren haben die Federn gespitzt und schufen klassische und moderne Märchen, lustige, melancholische, weise und bitterböse Erzählungen, so bunt wie das Leben und so unvergesslich wie das Passwort eines verhex- ten Buchhalters."


Pressearbeit

Damit ist meine Arbeit als Herausgeberin getan. Im November fahre ich für drei Wochen nach Helgoland und verfolge vom Internetcafé aus die ersten Forenkommentare zum Buch. Ich selbst muss mich bis Anfang Dezember gedulden. Als ich dann endlich zu Hause das Paket auspacken kann, denke ich: Ja, es hat sich gelohnt.

Zu Ende ist die Arbeit allerdings nicht. Der Verleger hatte damals ausdrücklich gesagt, er suche so etwas wie einen "Buchmanager". Das bedeutet wohl, dass mein Job erst zur Hälfte getan ist. Verkaufen soll sich das Buch schließlich auch. Also hänge ich meinen Herausgeberhut an den Nagel und mutiere zur Pressesprecherin. Ab jetzt wird die Zei- tungslandschaft mit drachenstarkem Feenzauber bombardiert.

Ich bitte meine Märchenschreiber, mir die Mailadressen ihrer Heimatzeitungen mitzuteilen. Einige wollen lieber nicht an die Öffen- tlichkeit, aber rund die Hälfte macht mit. Jetzt zahlt es sich aus, dass ich bereits bei der Ausschreibung eine Kurzbiographie verlangt hatte. Aus dem Klappentext und ein paar Sätzen zum Hintergrund der Anthologie bastele ich eine Pressemitteilung und setze individuell für jeden Autor einen Vorspann dazu, der näher auf das jeweilige Märchen und den Verfasser eingeht. Unter den Text kommen seine und meine Kon- taktdaten - fertig.

Als Lokalredakteurin weiß ich, dass in einer Heimatzeitung nichts so kostbar ist wie eine Ortsmarke. Im ersten Satz der Pressemitteilung und in der Betreffszeile der E-Mail platziere ich also unübersehbar den Wohnort meiner Helden. Die Rechnung geht auf. Bald mailen mir me- ine Schreiber die ersten erschienenen Zeitungsartikel zu.

Am 22. Dezember ist die erste Auflage verkauft, und ich stelle die Pressearbeit über die Feiertage ein. Die zweite Auflage erscheint im Januar, Ende Februar informiert der Verleger, die Bücher gingen lang- sam zur Neige, eine dritte Auflage sei durchaus möglich.

"Klar, dass sich das so gut verkauft", sagt meine Mutter. "Von dir ist ja nichts drin." Aber ein paarmal werde ich ihr wohl doch noch erzählen, ich sei eine "Bestseller-Macherin".

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Erschienen im Mai 2008 im „Tempest“, dem Newsletter von www.autorenforum.de.